Heute vor zehn Jahren deckten US-Behörden den Dieselbetrug auf – zunächst beim Wolfsburger Autobauer Volkswagen. Was hat sich seitdem verändert? Und warum ist die Aufklärung noch immer nicht beendet?
Ein Kellerraum im Landgericht Braunschweig. Auf langen Regalbrettern stapeln sich Aktenberge bis unter die Decke. Auf den braunen Deckblättern steht in weißen Feldern: „Beklagte/ Antragsgegnerin: Volkswagen AG“. Aus Sicht des VW-Konzerns ist dieser Raum wohl so etwas wie die Kammer des Schreckens.
Denn hinter jeder dieser Akte steckt ein enttäuschter Kunde, der Schadensersatz für seinen Diesel gefordert hat. Weil dieser, so der Vorwurf, eine illegale Software zur Abgasreinigung enthielt. Mehr als 1000 Akten lagern in diesem Archiv – nur ein Bruchteil dessen, womit sich allein das Landgericht Braunschweig befassen musste.
Beispielloser Wirtschaftsbetrug
Das Landgericht ist ein guter Ort, um den Rückblick auf einen beispiellosen Wirtschaftsbetrug zu beginnen, der seinen Anfang in Wolfsburg nahm und am Ende globale Folgen hatte. Kein anderes Gericht in Deutschland hat die Folgen dieses Betrugs so sehr zu spüren bekommen wie die Braunschweiger.
43.000 Einzelansprüche von VW-Kundinnen und -Kunden sind in den vergangenen Jahren bei ihnen eingegangen. Gerichtssprecher Benedikt Eicke nennt es eine „Herausforderung auf allen Ebenen“, um der Flut der Eingänge Herr zu werden. Immerhin: In diesem Jahr wollen sie die letzten Fälle abschließen.
Aber: An anderen deutschen Gerichten dauern die Zivilklagen weiterhin an. Und auch das Landgericht Braunschweig beschäftigt der Dieselbetrug weiter, und zwar in strafrechtlicher Hinsicht. Im November beginnt ein Prozess gegen fünf ehemalige VW-Beschäftigte, 100 Verhandlungstage sind bereits angesetzt.
Der erste Strafprozess gegen vier Ex-Manager endete im Mai dieses Jahres, das Landgericht verhängte Haftstrafen von bis zu zweieinhalb Jahren. Aber: Alle vier wollen gegen das Urteil vorgehen, möglicherweise wird sich noch der Bundesgerichtshof damit befassen.
„Rauchende Colt nicht wurde gefunden“
Wer trug die Verantwortung für die Entwicklung der Software, die die Abgaswerte der Dieselmotoren auf dem Prüfstand sehr viel besser erscheinen ließ als im tatsächlichen Verkehr? Diese zentrale Frage ist weiterhin nicht abschließend geklärt. Oder, wie es der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident und Ex-VW-Aufsichtsrat Stephan Weil (SPD) formuliert: „Es ist erkennbar so, dass der berühmte rauchende Colt nicht gefunden wurde.“
Er glaubt aber, dass es für Volkswagen „eine heilsame Lehre gewesen ist zu sehen, was für unglaubliche Folgen es haben kann, wenn man Regeln missachtet“. Diese mögliche „heilsame Lehre“ hat VW allerdings teuer bezahlt: Auf mehr als 33 Milliarden Euro beläuft sich mittlerweile die Summe, die der Konzern im Zusammenhang mit der Diesel-Affäre aufbringen musste.
Mehr Teamspirit oder immer noch maximaler Profit?
Hat der Hersteller tatsächlich daraus gelernt? Auf der diesjährigen Automesse IAA äußert sich VW-Chef Oliver Blume auf Nachfrage vor internationalen Journalistinnen und Journalisten zu dieser Frage. Volkswagen, versichert Blume, sei heute ein ganz anderes Unternehmen als vor zehn Jahren: „Mit einem klaren Teamspirit, mit offenen Entscheidungsprozessen und sehr sehr fokussiert auf die Menschen und die Gemeinschaft. Das ist es, was wir in den vergangenen Jahren verändert haben.“
Und die Beschäftigten – nehmen die das auch so wahr wie der Chef? Der Betriebsrat sagt: ja. „In Summe gibt es heutzutage bei Volkswagen weniger Hierarchie-Gläubigkeit, weniger Denken in fachlichen Silos sowie mehr Mut, Fehler und Probleme frühzeitig anzusprechen und daraus gemeinsam zu lernen“, so ein Sprecher des Betriebsrats auf NDR-Anfrage.
Aber es gibt auch kritische Stimmen. „Der Schock des Dieselskandals sitzt noch tief in den Unternehmen“, sagt der Automobilexperte Stefan Bratzel. „Der Skandal hat viel Geld gekostet, das man gebraucht hätte, um die Transformation gut zu bestehen. Aber er war auch der Auftakt für eine neue Zeitrechnung.“
Neue Zeitrechnung? Lernfähigkeit? Der Anwalt Ralph Sauer hat da einen anderen Eindruck von Volkswagen: „Die sind nicht lernfähig, es geht immer um den maximalen Profit.“ Das zeige sich jetzt wieder in der jüngsten Debatte um Schadstoffe in einem VW-Campermodell.
„Klageindustrie“ rund um den Dieselbetrug?
Wenn das Archiv im Keller des Landgerichts Braunschweig für VW so etwas wie die Kammer des Schreckens ist, dann könnte man Sauer salopp als „Anwalt des Schreckens“ bezeichnen. 30.000 Einzelverfahren hat seine Kanzlei bis heute zum Thema Dieselbetrug bearbeitet, zudem sind Sauer und Geschäftspartner Ralf Stoll 2019 für die Verbraucherschützer gegen den Konzern vor Gericht gezogen. Ergebnis: Volkswagen zahlte den rund 250.000 Dieselkunden, die sich zu der Sammelklage zusammengeschlossen hatten, 770 Millionen Euro.
Dass rund um den Dieselbetrug eine „Klageindustrie“ entstanden sei, diesen Vorwurf kennt Sauer. Tatsächlich sei es aber so, „dass VW Milliardenprofite machen wollte auf Kosten der betrogenen Verbraucher und dann ertappt wurde. Und diejenigen, die den Verbrauchern helfen, an ihren Schadensersatz zu kommen, die sind jetzt die böse Klageindustrie.“
Juristische Aufarbeitung des Skandals geht weiter
Klar ist: Die juristische Aufarbeitung des Dieselskandals wird noch Jahre dauern. Auch das zeigt sich in Braunschweig. Denn selbst wenn dort in diesem Jahr noch die Zivilklagen abgehakt werden, beginnt der zweite Strafprozess gegen Ex-VW-Beschäftigte.
Und dann ist da noch eine Sache, die das Landgericht erst einmal von sich fernhalten konnte, die es aber doch noch einholen könnte: Vor dem benachbarten Oberlandesgericht Braunschweig läuft zurzeit eine Sammelklage von Anlegern. Sie fordern eine Milliardensumme von VW, weil sie im Zuge des Abgasskandals viel Geld verloren haben.
Das Oberlandesgericht entscheidet in diesem Zusammenhang aber nur, vereinfacht gesagt, über ganz grundsätzliche Aspekte. Für die Klärung der konkreten Ansprüche eines jeden einzelnen Anlegers ist das OLG nicht zuständig. Das wäre dann wieder Sache des Landgerichts. Immerhin: Mittlerweile wurde die digitale Akte eingeführt – die Kammer des Schreckens, sie wandert dann in den virtuellen Raum.