Ein juristischer Praxisleitfaden für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Wann beginnt die Arbeitszeit? Diese scheinbar einfache Frage führt in vielen Unternehmen zu Unsicherheiten und Konflikten – insbesondere dann, wenn Arbeitnehmer weite Strecken auf dem Betriebsgelände zurücklegen müssen, bevor sie ihren eigentlichen Arbeitsplatz erreichen. Müssen solche Wege bezahlt werden? Zählt das Anlegen von vorgeschriebener Dienstkleidung zur Arbeitszeit? Und was gilt für Sicherheitskontrollen? Dieser Beitrag beleuchtet die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen anhand der gesetzlichen Grundlagen und aktueller Rechtsprechung und gibt praxisnahe Hinweise für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Begriff der Arbeitszeit im Arbeitszeitgesetz
Nach § 2 Abs. 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) ist Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Darunter versteht die Rechtsprechung jede Tätigkeit, die ein Arbeitnehmer im Interesse seines Arbeitgebers verrichtet. Entscheidend ist dabei nicht nur die eigentliche Arbeitsverrichtung, sondern auch vorbereitende Handlungen, die im Zusammenhang mit der Arbeitsleistung stehen.
Die arbeitszeitrechtliche Definition dient primär dem Arbeitnehmerschutz – insbesondere zur Begrenzung der zulässigen Arbeitszeit und zur Gewährleistung von Ruhezeiten. Ob eine als Arbeitszeit einzustufende Handlung zugleich vergütungspflichtig ist, ergibt sich nicht aus dem ArbZG, sondern aus dem Arbeitsvertrag, tarifvertraglichen Regelungen oder über die Grundsätze der betrieblichen Übung.
Der klassische Arbeitsweg: Keine Arbeitszeit
Die Zeit, die ein Arbeitnehmer benötigt, um von seinem Wohnort zur Arbeitsstätte zu gelangen, zählt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) grundsätzlich nicht zur Arbeitszeit. Sie ist dem privaten Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzuordnen und wird daher auch nicht vergütet. Dies gilt unabhängig von der Länge oder Schwierigkeit des Arbeitsweges.
Eine Ausnahme hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 10.09.2015 (Az. C-266/14, Tyco) für Arbeitnehmer ohne festen Arbeitsort geschaffen: Wenn etwa Servicetechniker vom Wohnort direkt zum ersten Kunden fahren und von dort abends wieder heimkehren, ist diese Fahrzeit als Arbeitszeit im Sinne der EU-Arbeitszeitrichtlinie anzusehen. Dies betrifft insbesondere den Arbeitsschutz, nicht aber automatisch die Vergütungspflicht.
Innerbetriebliche Wege: Differenzierung erforderlich
Die Wege, die ein Arbeitnehmer innerhalb eines großen Betriebsgeländes zurücklegt, etwa vom Parkplatz über das Werktor und durch eine Sicherheitsschleuse zur Umkleide oder zum Arbeitsplatz, sind besonders praxisrelevant. Ob diese Wegezeiten als Arbeitszeit gelten, hängt davon ab, ob der Arbeitnehmer dabei bereits in den Einflussbereich des Arbeitgebers gerät und betriebliche Zwecke verfolgt.
Das Bundesarbeitsgericht stellt dabei auf die sogenannte „Fremdnützigkeit“ ab: Eine Tätigkeit ist dann Arbeitszeit, wenn sie ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgt. Wird beispielsweise verlangt, dass der Arbeitnehmer erst im Betrieb spezielle Kleidung anzieht oder bestimmte Sicherheitsprozeduren durchläuft, spricht vieles dafür, dass die damit verbundenen Wegezeiten zur Arbeitszeit zählen.
Umkleidezeiten und Wege zur Umkleide
Ein besonders streitträchtiger Bereich ist die Umkleidezeit. Das BAG hat mit Urteil vom 19.09.2012 (Az. 5 AZR 678/11) klargestellt, dass das Umkleiden dann zur Arbeitszeit zählt, wenn das Tragen bestimmter Arbeitskleidung vorgeschrieben ist und das Umkleiden aus hygienischen oder sicherheitsrelevanten Gründen zwingend im Betrieb erfolgen muss. In diesem Fall sind auch die damit verbundenen Wege vom Umkleideraum zum Arbeitsplatz als Arbeitszeit zu werten.
Ein Unterschied besteht, wenn die Arbeitskleidung unauffällig ist und auch auf dem Weg zur Arbeit getragen werden könnte. Entscheidet sich der Arbeitnehmer in einem solchen Fall freiwillig, sich erst im Betrieb umzuziehen, liegt keine ausschließlich fremdnützige Tätigkeit vor. Die Umkleidezeit ist dann nicht zu vergüten.
Sicherheitskontrollen und weitere betriebliche Verpflichtungen
In sicherheitssensiblen Bereichen wie Flughäfen oder Kraftwerken sind Sicherheitskontrollen vor Arbeitsbeginn verpflichtend. Ob diese Zeiten als Arbeitszeit gelten, ist umstritten. Nach Auffassung einiger Landesarbeitsgerichte handelt es sich hierbei noch nicht um Arbeitszeit, sofern die Kontrolle vor der eigentlichen Zeiterfassung erfolgt und keine betrieblich geforderte Leistung erbracht wird.
Anders liegt der Fall, wenn die Kontrolle auf Weisung des Arbeitgebers durchgeführt wird und mit anderen Arbeitsvorbereitungen verknüpft ist (z. B. Materialübernahme, Sicherheitsunterweisung). Dann spricht vieles für eine Einstufung als Arbeitszeit.
Fremdnützigkeit als juristischer Maßstab
Die Rechtsprechung verwendet zur Abgrenzung die „Fremdnützigkeit“ als zentrales Kriterium: Ist eine Handlung ausschließlich durch betriebliche Erfordernisse motiviert, liegt Arbeitszeit vor. Erfolgt eine Handlung hingegen auf Wunsch oder aus Bequemlichkeit des Arbeitnehmers, ist sie nicht vergütungspflichtig.
So ist etwa das Tragen einer auffälligen Schutzkleidung im Betrieb auf Weisung des Arbeitgebers fremdnützig, das freiwillige Umkleiden bei neutraler Kleidung jedoch nicht. Gleiches gilt für innerbetriebliche Wege, die zur Vorbereitung der Arbeitsausführung erforderlich sind, etwa zur Abholung von Werkzeugen.
Wichtige Urteile zur Abgrenzung der Arbeitszeit
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BAG, Urt. v. 19.09.2012 – 5 AZR 678/11: Umkleidezeiten und Wege zum Arbeitsplatz gelten als Arbeitszeit, wenn spezielle Kleidung angeordnet ist.
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EuGH, Urt. v. 10.09.2015 – C-266/14 (Tyco): Bei fehlendem festen Arbeitsort zählen Fahrtzeiten zu Beginn und Ende des Arbeitstags als Arbeitszeit.
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BAG, Urt. v. 10.11.2021 – 5 AZR 334/21: Arbeitgeber dürfen Arbeitnehmer nicht verpflichten, eigene Arbeitsmittel unentgeltlich bereitzustellen – ein Gedanke, der auch auf Wegezeiten übertragbar ist.
Handlungsempfehlungen
Lange Wege im Betrieb können unter bestimmten Voraussetzungen zur Arbeitszeit zählen. Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber durch Weisung oder betriebliche Organisation dafür sorgt, dass der Arbeitnehmer bereits vor Arbeitsbeginn fremdnützig tätig wird. Umkleidezeiten, Sicherheitskontrollen und innerbetriebliche Transporte sind dann in der Regel zu vergüten.
Arbeitgeber sollten ihre internen Abläufe überprüfen und gegebenenfalls durch Betriebsvereinbarungen oder Arbeitsvertragsregelungen klare Verhältnisse schaffen. Arbeitnehmer wiederum haben das Recht, eine Vergütung einzufordern, wenn bestimmte Wegezeiten erkennbar im Interesse des Arbeitgebers erbracht werden. Eine rechtliche Prüfung im Einzelfall ist häufig sinnvoll, um Klarheit zu schaffen.
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. von der Kanzlei JURA.CC ist auf das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsrecht spezialisiert.
Er berät und vertritt sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber bei der Gestaltung und Verhandlung von Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen im Zusammenhang mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
Kommt es zu einer Kündigung, übernimmt er – falls erforderlich – auch die gerichtliche Vertretung im Rahmen einer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Ziel ist dabei stets eine interessengerechte Lösung: Für Arbeitnehmer kann dies etwa die Durchsetzung einer angemessenen Abfindung, ein wohlwollendes Arbeitszeugnis oder die Rücknahme der Kündigung und Weiterbeschäftigung sein; Arbeitgeber unterstützt er bei rechtssicheren Kündigungen, der Vermeidung langwieriger Prozesse und der Gestaltung von fairen Einigungen.
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