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Bei der Krise deutscher Stahlkonzerne wie Thyssenkrupp oder Salzgitter geht es nicht nur um Zehntausende Jobs. Auch aus strategischen Gründen ist die Branche unverzichtbar. Was rettet die deutschen Stahlkocher?
Seit Jahren ist die deutsche Stahlbranche in Aufruhr und in einer schwierigen und komplexen Gemengelage. Roh- oder Edelstahl befindet sich in gut 75 Prozent aller Produkte – vom Küchenstuhl über das Auto bis zur Brücke und zur Windturbine. Das allerdings bedeutet für die Hersteller hierzulande keineswegs automatisch einen hohen Absatz.
Denn auf dem Weltmarkt gibt es insgesamt ein Überangebot an Stahl, der dazu noch recht günstig ist – vor allem weil Länder wie China ihn subventionieren. „Die beiden Faktoren führen dazu, dass der deutsche Stahl im Zweifelsfall für den Weltmarkt zu teuer ist“, sagt Dirk Niemeier, Stahlexperte bei der Unternehmensberatung PWC.
Viele Standortnachteile
Diese Situation hat sich durch den Handelskonflikt zwischen den USA und China noch verschärft. Weil die Volksrepublik ihren Billig-Stahl in den USA nicht mehr absetzen kann, überschwemmt sie damit den europäischen Markt noch stärker. Zwar ist Deutschland bei der Stahlproduktion mit Abstand die Nummer Eins in Europa. Doch die im vergangenen Jahr produzierten 37 Millionen Tonnen sind nicht einmal vier Prozent der Menge, die China auf den Weltmarkt geworfen hat.
Für die großen deutschen Stahlkocher wie ThyssenKrupp oder Salzgitter wird es immer schwieriger mitzuhalten – denn sie haben viele Standortnachteile. Dazu gehören die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen Strom- und Lohnkosten, sagt Stahl-Experte Dirk Niemeier von PWC: „Deshalb ist es sehr schwierig, rein preislich an dem Markt zu bestehen.“
Energiekosten müssen sinken
Tatsächlich benötigt die Stahlproduktion extrem viel Energie, was auch sehr viel umweltschädliches CO2 produziert. Aus diesem Grund spricht man auch von einer „dreckigen Industrie“.
Auf Druck der Politik und der Europäischen Union haben die Stahlkocher hierzulande deshalb massive Investitionen in die Umstellung auf sogenannten „grünen“ Stahl getätigt. Das belastet die Firmen zusätzlich. Bislang zahlen sich diese Investitionen nämlich nicht aus. Benötigt werden Unmengen an „grünem“ Wasserstoff, der sehr teuer und in Deutschland nicht ausreichend vorhanden ist. Deshalb hat der größte Stahlkocher der Welt, das europäisch-indische Unternehmen ArcelorMittal, entsprechende Pläne in seinen deutschen Werken Bremen und Eisenhüttenstadt im Sommer auf Eis gelegt. In Frankreich hingegen will man an den Plänen festhalten.
Wenn die Branche hierzulande überleben will, braucht sie also massive Hilfe: niedrigere Energiekosten, günstigere Produktionsbedingungen und weniger Auflagen, sagen etwa die Wissenschaftler Tom Krebs und Patrick Kaczmarczyk von der Universität Mannheim. Dort sieht man zwar den Umbau zum „grünen“ Stahl auch als Chance. Bei den hohen Kosten müsse der Branche aber geholfen werden.
Zentraler Werkstoff für Rüstungsindustrie
In ihrer jetzt veröffentlichten Studie, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung finanziert wurde, warnen sie vor den verheerenden Folgen des Niedergangs oder gar des Endes der deutschen Stahlindustrie. Dadurch würden im Extremfall gesamtwirtschaftliche Schäden von bis zu 50 Milliarden Euro für die deutsche Volkswirtschaft entstehen.
„Das entspricht einem Anteil von 1,2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt“, sagt Patrick Kaczmarczyk. „Je mehr wir outsourcen, um so verwundbarer werden wir, je mehr wir von der Stahlproduktion erhalten, umso resilienter werden wir.“
Resilienz, also Widerstandsfähigkeit und Unabhängigkeit, sind die Schlüsselwörter. Denn die Corona-Pandemie und der Zollstreit mit den USA zeigen die massiven wirtschaftlichen Probleme, die entstehen, wenn ein Land zu stark von ausländischen Importen abhängig ist.
Hinzu kommt: Stahl ist auch ein zentraler Werkstoff für die Rüstungsindustrie. Angesichts der angespannten Sicherheitslage in Europa verbietet sich ein Niedergang der Industrie aus Sicht vieler Beobachter daher von selbst. Das sagt auch Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Diba: „In Zeiten, in denen der Begriff strategische Autonomie endlich mit Leben gefüllt wird, ist der Erhalt dieser Schlüsselindustrie für Deutschland und Europa besonders wichtig.“
Staatliche Beteiligungen als Ausweg?
Der stärkste Grund für den Erhalt der Branche sind aber die Arbeitsplätze: in Deutschland beschäftigt die Stahlindustrie knapp 90.000 Menschen in gut bezahlten Jobs – vor allem konzentriert in Teilen von Nordrhein- Westfalen, in Niedersachsen und im Saarland. Deshalb warnen die Forscher der Universität Mannheim in ihrer Studie auch vor den politischen Folgen. Ein Niedergang der Branche würde zu massiven Verwerfungen führen.
Denn über 40 Prozent der Beschäftigten in der Stahlbranche seien über 50 Jahre alt und hätten kaum Chancen, auf dem Arbeitsmarkt eine Alternative zu finden. Dies führe zu extremer Enttäuschung und Frustration: „Eine solche Wirtschaftspolitik wäre ein Konjunkturprogramm für die AfD in den betroffenen Regionen“, heißt es in der Studie.
All das hat offenbar nun auch die Bundesregierung erkannt. Sie will zumindest einen günstigeren Industrie-Strompreis einführen. Auch die massiven staatlichen Investitionspakete dürften der Stahlbranche helfen. Aus diesem Grund sind auch die Aktienkurse der großen deutschen Stahlkocher wie ThyssenKrupp und Salzgitter nach massiven Verlusten in jüngster Zeit wieder angezogen.
Die Forscher der Universität Mannheim fordern aber noch mehr: ein stärkeres Engagement des Bundes, etwa in Form einer Beteiligung an den Unternehmen dieser Schlüsselindustrie. Ähnlich wie das Land Niedersachsen: es hält 26,5 Prozent an der Salzgitter AG und ist damit größter Einzelaktionär.

