Ohne Programmierer kommt kaum ein Startup aus. Vor allem zu Beginn stellen sie den Kern der Firma dar – und die höchsten Kosten. Das ändert sich jetzt.

Handout / Gettyimages; Collage: Gründerszene
Ein kleines Team, kaum zehn Leute, sitzt in einem unscheinbaren Büro im Silicon Valley. Es ist das Team eines hochbewerteten Startups, und es hat mit einer Handvoll Entwicklern in wenigen Monaten auf die Beine gestellt, was früher Armee von Programmierern beschäftigt hätte. Dieses Bild macht nicht nur in der kalifornischen Tech-Szene die Runde, und es folgt dem Konzept des „Vibe Coding“.
Garry Tan, Chef des legendären Startup-Inkubators Y Combinator, ist überzeugt, dass genau dieses „Vibe Coding“ die Spielregeln für junge Unternehmen radikal verändert. In einem Interview mit CNBC schwärmte Tan kürzlich von der neuen Methode: Mithilfe künstlicher Intelligenz könnten kleine Teams jetzt Software entwickeln, für die früher dutzende Ingenieure nötig gewesen wären. Vor allem junge Entwickler, die angesichts eines schwierigen Arbeitsmarkts Probleme haben, Fuß zu fassen, sollten diese Chance nutzen und eigene Startups gründen.
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„Das Verrückte daran ist doch: Heute erreichen Menschen Umsätze von einer bis zehn Millionen Dollar pro Jahr mit weniger als zehn Mitarbeitern. Das gab es in der frühen Phase von Risikokapitalinvestitionen bisher einfach nicht“, sagte Tan gegenüber CNBC.
Was genau bedeutet „Vibe Coding“?
Laut Tan liegt dieser Erfolg zum Teil am sogenannten „Vibe Coding“, einem neuen Lieblingsbegriff im Silicon Valley. Geprägt wurde der Ausdruck im Februar von Andrej Karpathy, Mitgründer von OpenAI, in einem Beitrag auf der Plattform X (vormals Twitter). Doch was genau steckt hinter diesem Begriff?
„Man spricht einfach mit den großen Sprachmodellen (Large Language Models, LLMs), und diese programmieren komplette Anwendungen“, erläuterte Tan. „Falls etwas nicht funktioniert – wenn es einen Bug gibt oder man Änderungen möchte oder das Design anders aussehen soll –, dann muss man nicht mehr selbst in den Code eingreifen und ihn manuell schreiben.“
Im Kern beschreibt Tan damit eine zunehmende Abhängigkeit von Künstlicher Intelligenz bei der eigentlichen Programmierarbeit. Das „Vibe Coding“ beschleunige enorm die Geschwindigkeit, mit der Startups relevante Software entwickeln können. „Man muss niemanden extra dafür einstellen. Man spricht direkt mit dem Sprachmodell, das den Code geschrieben hat, und es behebt die Fehler automatisch für einen“, so Tan weiter. „Manchmal kann man sogar alle vorgeschlagenen Änderungen ungesehen übernehmen – so gut sind diese Modelle inzwischen.“
KI übernimmt bis zu 95 Prozent der Programmierarbeit
Tan zufolge macht „Vibe Coding“ den gesamten Prozess der Softwareentwicklung effizienter. Die aktuelle Gruppe von Startups bei Y Combinator – laut Tan bestehen derzeit rund 81 Prozent davon aus KI-Unternehmen – nutzt diese Möglichkeiten bereits intensiv. „Das passiert zum allerersten Mal: Bei etwa 25 Prozent unserer aktuellen Startups wurden 95 Prozent des Codes von großen Sprachmodellen geschrieben“, betonte Tan.
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Die enorme Leistungsfähigkeit dieser Modelle erlaubt es jungen Firmen, deutlich schlanker zu bleiben als früher. Was früher 50 bis 100 Entwickler benötigt hätte, könne nun ein Team aus nur zehn Personen schaffen – vorausgesetzt, sie seien echte Profis im „Vibe Coding“. Wenn sie wirklich gut darin sind, modernste Tools zur Codegenerierung wie Cursor oder Windsurf einzusetzen, erledigen sie buchstäblich die Arbeit von zehn oder sogar hundert Ingenieuren an einem einzigen Tag“, erklärte Tan.
Grenzen des „Vibe Codings“: Menschen müssen weiterhin debuggen
Allerdings räumte Tan in einer Episode des Y-Combinator-Podcasts Lightcone Anfang des Monats auch Nachteile ein. Eine Umfrage unter den aktuellen Gründern zeigte beispielsweise, dass die Sprachmodelle beim Debuggen noch Schwächen haben. „Menschen müssen nach wie vor das Debugging übernehmen und verstehen, was genau der Code eigentlich tut“, sagte er. „Es gibt offenbar noch keine Möglichkeit, dem Modell einfach den Befehl ‚debugge das‘ zu geben.“
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Dennoch überwiegen für Tan klar die Vorteile. Ein wesentlicher Punkt: Dank KI lohnt es sich nun deutlich eher, Zeit und Geld in Nischen-Software zu investieren – da diese schneller und kostengünstiger entwickelt werden kann. „Ich glaube auch, dass dies die Branche insgesamt verändert: Plötzlich können Softwarelösungen für Bereiche entstehen, für die man früher niemals Software geschrieben hätte – Märkte also, die zuvor als ‚zu klein‘ galten“, erklärte er. Selbst solche Nischenmärkte könnten nun Unternehmen tragen, die jährlich Umsätze von hundert Millionen Dollar erzielen – und dabei trotzdem kleine Teams bleiben. „Das sind wirklich gute Nachrichten“, so Tan.
Neue Chancen für junge Ingenieure auf schwierigem Arbeitsmarkt
Für junge Ingenieure kommt laut Tan das Zeitalter des „Vibe Codings“ genau zur richtigen Zeit: Es bietet ihnen die Möglichkeit, sich unabhängig von großen Konzernen selbstständig zu machen – gerade jetzt, da der Arbeitsmarkt schwieriger geworden ist.
„Vielleicht ist es genau jener Entwickler, der keinen Job bei Meta oder Google bekommen hat und nun ein eigenes Unternehmen aufbauen kann – eines mit zehn Leuten und einem Jahresumsatz zwischen zehn und hundert Millionen Dollar“, sagte er abschließend. „Das ist doch ein unglaublich spannender Moment für Software.“
Dieser Artikel erschien zuerst bei BI US.