Die Naturgewalten scheinen immer häufiger und heftiger zuzuschlagen, und mit ihnen wächst die Sorge vieler Menschen vor Schäden am eigenen Haus und Hof. Insbesondere für Bewohner von Küstenregionen sind Überschwemmungen eine reale und oft wiederkehrende Gefahr. Doch was passiert, wenn das Wasser tatsächlich kommt? Übernimmt die Versicherung die entstandenen Kosten? Die Antwort darauf hängt oft von winzigen Details in Ihrem Versicherungsvertrag ab – insbesondere von sogenannten „Sturmflutklauseln“. Diese sind jedoch häufig unklar formuliert und können für Versicherte im Schadensfall zu einer bösen und teuren Überraschung werden.
Das Kernproblem: Was genau versteht Ihre Versicherung unter einer „Sturmflut“?
Viele Wohngebäude- und Hausratversicherungen schließen Schäden durch „Sturmflut“ ausdrücklich vom Versicherungsschutz aus. Klingt erstmal eindeutig – ist es aber oft nicht. Denn was genau unter einer „Sturmflut“ im juristischen Sinne zu verstehen ist, darüber sind sich selbst Gerichte und Fachleute nicht immer einig. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht dabei meist eine entscheidende Frage: Setzt eine „Sturmflut“ im Sinne der Versicherungsbedingungen zwingend den Einfluss von Ebbe und Flut, also der Gezeiten, voraus?
Diese Frage ist von enormer praktischer Bedeutung, wie sich beispielsweise nach dem schweren Ostseesturmhochwasser im Oktober 2023 zeigte. Da die Ostsee – anders als die Nordsee – kaum nennenswerte Gezeiten aufweist (Experten sprechen von einem geringen Tidenhub), ist es mehr als fraglich, ob ein solches Hochwasserereignis überhaupt als „Sturmflut“ im Sinne vieler gängiger Versicherungsklauseln gelten kann.
Wie liest man das Kleingedruckte? Die Auslegung von Versicherungsklauseln
Versicherungsbedingungen sind nichts anderes als Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB). Für ihre Auslegung gibt es klare gesetzliche Regeln und eine gefestigte Rechtsprechung. Ganz entscheidend ist dabei immer, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer – also ein Laie ohne spezielle juristische Vorkenntnisse – die betreffende Klausel bei verständiger Würdigung verstehen durfte und musste. Ein wichtiger Grundsatz lautet: Unklare oder mehrdeutige Formulierungen gehen immer zulasten des Verwenders, also des Versicherers.
Besonders streng sind die Gerichte bei Klauseln, die den Versicherungsschutz einschränken oder ausschließen (sogenannte Risikoausschlussklauseln). Diese müssen eng ausgelegt werden. Als Versicherter dürfen Sie darauf vertrauen, dass Ihnen der versprochene Schutz gewährt wird und Sie nicht mit überraschenden Lücken im Versicherungsschutz rechnen müssen, die Ihnen nicht klar und unmissverständlich vor Augen geführt wurden.
Was sagen die Gerichte zur „Sturmflut“?
Mehrere Gerichte hatten bereits Gelegenheit, sich mit der Auslegung des Begriffs „Sturmflut“ in Versicherungsbedingungen zu beschäftigen:
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Der Bundesgerichtshof (BGH), Deutschlands höchstes Zivilgericht, hat „Sturmflut“ als ein durch Sturm verursachtes, außergewöhnlich hohes Ansteigen des Wassers an Meeresküsten und in Flussmündungen definiert. In einer wichtigen Entscheidung (Az. IV ZR 235/19) ließ der BGH jedoch ausdrücklich offen, ob für das Vorliegen einer „Sturmflut“ zusätzlich eine Mitverursachung durch die Gezeiten erforderlich ist. Klarstellend führte der BGH aber aus, dass ein Ausschluss für „Schäden durch Sturmflut“ jedenfalls dann nicht greift, wenn die Schäden sich lediglich als mittelbare Auswirkungen einer solchen Sturmflut darstellen.
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Das Kammergericht (KG) Berlin (Az. 6 U 139/18) hielt es für keineswegs eindeutig, ob für eine „Sturmflut“ zwingend die Gezeiten mitwirken müssen. Aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers sei nicht klar erkennbar, ob der Risikoausschluss in den Bedingungen auch Sturmhochwasser an der Ostsee umfassen solle.
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Auch der österreichische Oberste Gerichtshof (ÖOGH) hat in einer Entscheidung zu einer wortgleichen Klausel (Az. 7 Ob 69/06g) angedeutet, dass es sich bei einer Sturmflut typischerweise um eine gezeitengesteuerte Hochwassererscheinung handelt.
„Sturmflut“ vs. „Sturmhochwasser“ – Ein feiner, aber wichtiger Unterschied
Auch wenn die Begriffe umgangssprachlich oft synonym verwendet werden: In der Fachsprache und auch im Verständnis vieler Experten wird durchaus zwischen einer „Sturmflut“ (die maßgeblich von den Gezeiten beeinflusst wird) und einem „Sturmhochwasser“ (einem durch Sturm verursachten Hochwasser ohne wesentlichen Gezeiteneinfluss, wie es typischerweise an der Ostsee auftritt) unterschieden.
Zwar definieren einige Wörterbücher den Begriff „Sturmflut“ eher weit, doch andere maßgebliche Quellen, wie beispielsweise Definitionen des Deutschen Wetterdienstes oder der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, betonen den Zusammenhang mit den Gezeiten – also Ebbe und Flut. Auch eine sprachwissenschaftliche Analyse des Wortes „Sturmflut“ legt nahe, dass es sich um eine durch „Sturm“ verstärkte „Flut“ handelt. Ohne das Element der „Flut“ (also der Gezeiten) gäbe es demnach streng genommen auch keine „Sturmflut“.
Historisch ist der Begriff „Sturmflut“ tief verwurzelt mit den verheerenden, gezeitenabhängigen Sturmflut-Katastrophen an der Nordsee, die über Jahrhunderte hinweg ganze Landstriche verwüstet und unzählige Menschenleben gefordert haben. Solche Ereignisse sind in ihrem katastrophalen Ausmaß und ihrer Unvorhersehbarkeit kaum mit den (zweifellos ebenfalls schlimmen und schadensträchtigen) Sturmhochwassern an der Ostsee vergleichbar, bei denen die Gezeiten keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Das Transparenzgebot: Versicherer müssen Klartext reden!
Ein fundamentaler Grundsatz im deutschen Vertragsrecht ist das Transparenzgebot, das in § 307 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verankert ist. Es besagt vereinfacht: Klauseln in AGB müssen klar, verständlich und eindeutig formuliert sein. Ist eine Klausel nicht transparent, kann sie unwirksam sein mit der Folge, dass sie im Streitfall nicht angewendet werden darf.
Für Versicherungsklauseln bedeutet dies: Der Versicherer ist verpflichtet, den Begriff „Sturmflut“ so klar und präzise zu definieren, dass der Versicherte bereits bei Vertragsschluss erkennen kann, in welchem Umfang er Versicherungsschutz genießt und welche Ereignisse möglicherweise seinen Versicherungsschutz gefährden oder ausschließen.
Wenn eine Sturmflutklausel also nicht unmissverständlich klarstellt, ob auch gezeitenunabhängige Hochwasserereignisse (wie sie typischerweise an der Ostseeküste auftreten) vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sein sollen, könnte eine solche Klausel wegen Verstoßes gegen das Verständlichkeits- und Bestimmtheitsgebot des § 307 BGB unwirksam sein. Die Konsequenz wäre: Der Versicherer müsste dann auch für Schäden durch solche Ereignisse leisten, obwohl die Klausel dies eigentlich verhindern sollte.
Was können Sie tun? Ihre Rechte als Versicherter
Wenn Sie von einem Hochwasser an der Küste betroffen sind, sollten Sie folgende Schritte beachten:
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Blick in den Vertrag: Werfen Sie einen genauen Blick in Ihre Versicherungsbedingungen. Wie ist der Begriff „Sturmflut“ dort definiert? Welche Schäden sind konkret ausgeschlossen?
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Schaden unverzüglich melden: Melden Sie jeden entstandenen Schaden sofort und umfassend Ihrer Versicherung. Dokumentieren Sie die Schäden so gut wie möglich (Fotos, Videos, Zeugen).
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Nicht vorschnell entmutigen lassen: Lehnt Ihre Versicherung die Übernahme der Kosten mit Verweis auf eine Sturmflutklausel ab, obwohl es sich bei dem Schadenereignis um ein Hochwasser ohne nennenswerten Gezeiteneinfluss handelte (beispielsweise an der Ostseeküste), sollten Sie dies nicht ohne Weiteres akzeptieren. Die Chancen, dass der Ausschluss in Ihrem Fall nicht greift oder die Klausel selbst unwirksam ist, können gut stehen. Holen Sie in einem solchen Fall unbedingt Rechtsrat ein.
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Kollektiver Rechtsschutz prüfen: In bestimmten Fällen können auch Möglichkeiten des kollektiven Rechtsschutzes, wie beispielsweise Verbandsklagen durch Verbraucherschutzorganisationen, ein Weg sein, um gegen die Regulierungspraxis von Versicherern vorzugehen.
Fazit und Empfehlung
Die Auslegung von Sturmflutklauseln in Versicherungsverträgen ist ein juristisch komplexes Feld, das jedoch oft zugunsten der Versicherten entschieden werden kann, insbesondere wenn es um Hochwasserschäden an Küsten ohne ausgeprägten Gezeiteneinfluss geht. Versicherer wären gut beraten, ihre Klauseln zukünftig klarer und eindeutiger zu formulieren, um Rechtsstreitigkeiten und Unklarheiten von vornherein zu vermeiden.
Sollte Ihre Versicherung nach einem Hochwasserereignis die Leistung verweigern und sich dabei auf eine unklare oder missverständliche Sturmflutklausel berufen, müssen Sie dies nicht tatenlos hinnehmen. Es empfiehlt sich dringend, frühzeitig anwaltliche Beratung in Anspruch zu nehmen, um Ihre Ansprüche prüfen und gegebenenfalls durchsetzen zu lassen. Als Fachanwalt für Versicherungsrecht verfügt Rechtsanwalt Wolfgang Benedikt-Jansen über die spezielle Expertise und langjährige Erfahrung, um Sie in versicherungsrechtlichen Auseinandersetzungen kompetent zu beraten und zu vertreten. Er ist Ihnen gerne bei der Lösung Ihrer Probleme im Versicherungsrecht behilflich.