Russlands Kampf gegen die Inflation könnte die Politik von einem viel größeren Problem ablenken: dem stockenden Wirtschaftswachstum.
Sowohl die Arbeitsproduktivität als auch die Beschäftigung stehen unter Druck – zwei zentrale Säulen für Wachstum.
Ein führender russischer Banker fordert, dass das Land gezielt hoch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland anwerben muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Russlands politische Entscheidungsträger sind so stark auf die Inflation fixiert, dass sie das größere wirtschaftliche Bild übersehen könnten – das sagte einer der mächtigsten Banker des Landes vergangene Woche.
Sberbank-CEO: Wachstum schwer zu erreichen
„Wir haben uns in letzter Zeit so sehr darauf konzentriert, die Inflation zu bekämpfen, dass wir das Wirtschaftswachstum etwas aus den Augen verloren haben. Ohne Wachstum gibt es nichts – wir können weder soziale Probleme lösen noch sonst irgendetwas“, sagte German Gref, CEO der staatlichen Sberbank, am Donnerstag vor dem Staatsrat für Demografie und Familienpolitik.
„Alles Wirtschaftswachstum hängt von zwei Faktoren ab: von der Arbeitsproduktivität und der Zahl der Beschäftigten“, so Gref, der von 2000 bis 2007 Russlands Wirtschaftsminister war. Doch beide Säulen stünden derzeit unter Druck. „Grundsätzlich ist Wachstum erreichbar, wenn wir beginnen, Künstliche Intelligenz, Robotik und andere neue Technologien aktiv einzusetzen – aber das erfordert erhebliche Investitionen und eine starke Förderung von Bildung und Wissenschaft“, sagte Gref. „Das wird jedoch schwer zu erreichen sein angesichts des Kapitalmangels und der hohen Zinsen, die wir derzeit haben“, fügte er hinzu.
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Grefs Äußerungen kamen kurz bevor die russische Zentralbank am Freitag ihren Leitzins um 50 Basispunkte auf 16,5 Prozent senkte. Unternehmer kritisieren seit Langem die straffe Geldpolitik der Zentralbank. Sie argumentieren, dass die extrem hohen Kreditkosten Investitionen und Wachstum abwürgen. Die Zentralbank verteidigt ihren Kurs mit Verweis auf die hohe Inflation, die im dritten Quartal bei rund 6,4 Prozent lag. Gref prognostizierte, dass das Wachstum des russischen Bruttoinlandsprodukts in den nächsten zwei Jahren nur zwischen einem und 1,5 Prozent liegen werde und in diesem Jahr sogar auf 0,8 Prozent fallen könnte – ein starker Rückgang gegenüber dem 4,3-prozentigen Wachstum des Vorjahres.
Bereits Anfang Oktober hatte ein führender russischer Wirtschaftsvertreter gewarnt, dass das Land so stark an Wachstumsdynamik verliere, dass es seine steigenden Verteidigungs-, Sicherheits- und Sozialausgaben kaum noch finanzieren könne.
Putin: Bevölkerungswachstum ist Frage des „ethnischen Überlebens“
Russland steht zudem vor einer wachsenden demografischen Krise – bis 2030 droht laut Arbeitsminister Anton Kotjakow ein Arbeitskräftemangel von fast elf Millionen Menschen. Der Krieg in der Ukraine hat das Problem weiter verschärft: Gefallene Soldaten und die Massenabwanderung junger Fachkräfte lassen die Zahl der Erwerbstätigen rapide sinken.
Zwar setzt Russland zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte – vor allem aus Zentralasien –, um die Lücken zu schließen. Doch Gref warnte, das Land betreibe dabei eine „negative Selektion“. „Wir ziehen überwiegend gering qualifizierte Arbeitskräfte an, während wir selbst hoch qualifizierte Fachleute verlieren“, sagte er. Russland müsse gezielt gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland anwerben und Anreize für internationale Absolventen schaffen, im Land zu bleiben. „Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit und des Überlebens unseres Landes“, betonte Gref.
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Der demografische Druck verzerrt bereits jetzt die russische Wirtschaft: Die Arbeitslosigkeit liegt bei nur etwa 2,1 Prozent, während die Löhne schnell steigen – was wiederum den Inflationsdruck erhöht. Unternehmen kämpfen bereits mit Personalnot und stellen zunehmend Rentner und Teenager ein, um Lücken zu füllen – eine Folge der durch den Krieg verzerrten Wirtschaft.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat das Bevölkerungswachstum zur nationalen Priorität erklärt. Er bezeichnete es als Frage des „ethnischen Überlebens“ und rief Frauen dazu auf, bis zu acht Kinder zu bekommen. Im Jahr 2024 sank die Zahl der Geburten in Russland auf 1,22 Millionen – den niedrigsten Stand seit 1999 –, während die Todesfälle auf 1,82 Millionen stiegen, wie Regierungsdaten zeigen.
