Kay Scheller ist Präsident des Bundesrechnungshofes und geht davon aus, dass Deutschlands Staatsverschuldung in den kommenden Jahren erheblich ansteigt und die Fiskalregeln gebrochen werden. Daraus leitet er drei zentrale Forderungen ab.
Der Druck auf die deutschen Staatsfinanzen ist groß. Weit zurückreichende strukturelle Versäumnisse treffen auf neue Herausforderungen, die den Einsatz finanzieller Ressourcen in bislang nicht gekannter Dimension erforderlich machen. Die vermeintlich einfachste Lösung ist, mehr Schulden zu machen. So wie bisher.
Wer aber dauerhaft über seine Verhältnisse lebt, hat keine Zukunft. Für einen fortwährend handlungsfähigen Staat sind solide Staatsfinanzen essenziell. Sie sind Grundbedingung dafür, dass der Staat seine Kernaufgaben – wie innere und äußere Sicherheit, soziale Sicherung, Rechtsgüter- und Grundrechtsschutz, Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz – generell und auch in Krisenzeiten erfüllen kann. Heute und auch morgen. Ohne solide Staatsfinanzen droht dem Staat nicht nur der Verlust seiner Handlungsfähigkeit, sondern auch des Vertrauens seiner Bürgerinnen und Bürger.
Enormer Aufwuchs der Staatsverschuldung
Allein in den Jahren 2020 bis 2024 ist die Verschuldung des Bundes aufgrund der multiplen Krisenreaktionsmaßnahmen auf rund 1,9 Billionen Euro hochgeschnellt. Und auch für den neuen Finanzplan sieht die Bundesregierung neue Schulden vor. Bis zum Jahr 2029 wird die Verschuldung des Bundes voraussichtlich auf 2,7 Billionen Euro steigen. Das sind Größenordnungen, die selbst für Haushaltsexperten nur noch schwer vorstellbar sind.
Mit diesen Mitteln sollen nun auch dringend erforderliche Investitionen in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Infrastruktur und Klimaschutz getätigt werden. Aber trotz des dringenden Handlungsbedarfs bleibt es dabei: Wer staatliche Kernaufgaben dauerhaft nicht aus den laufenden Einnahmen finanziert, lebt über seine Verhältnisse. Neue Schulden können ein kurzfristiger Ausweg sein. Sie sind per se weder gut noch schlecht. Wichtig ist aber, dass sich der Staat diese Schulden – und insbesondere die daraus erwachsende Zinslast – auch dauerhaft leisten kann. Die wiederholte „Flucht in die Verschuldung“ ist langfristig keine tragfähige Lösung.
Wirksame Schuldenregel trägt zu soliden Staatsfinanzen bei
Zentrales Element zur Sicherung solider Staatsfinanzen war bislang die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel. Sie wurde im Jahr 2009 als Reaktion auf die prekäre Situation der öffentlichen Haushalte sowie auf die Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union beschlossen.
Die Schuldenregel hat sich in der Folge als äußerst wirkungsvoll erwiesen. Sie hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass die deutsche Staatsverschuldung eingedämmt werden konnte. Dadurch hat sie wichtige finanzielle Handlungsspielräume geschaffen, um auf die jüngsten Krisen – etwa die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Energieversorgungskrise – reagieren zu können.
Kritiker mögen anführen, dass die Schuldenregel in den vergangenen Jahren dringend notwendige Investitionen verhindert hat. Diese Kritik geht allerdings an der Realität vorbei. Denn die Schuldenregel gibt nicht vor, wofür öffentliche Mittel ausgegeben werden sollen. Das ist Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, die über den jährlichen Haushalt die finanziellen Schwerpunkte und damit auch die Prioritäten setzen.
Schuldenregel verliert Wächterfunktion
Diese für die Sicherung solider Staatsfinanzen so wichtige Schuldenregel wurde zuletzt substanziell geschwächt. Die zulässige Verschuldung darf jetzt um Ausgaben für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung, die ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen, erhöht werden. Liegen Ausgaben oberhalb dieser Grenze, sind sie von der Schuldenregel ausgenommen. Im aktuellen Haushaltsentwurf für das Jahr 2026 ordnet die Bundesregierung fast 19 Prozent der Ausgaben des Bundeshaushalts dem Bereich Sicherheit und Verteidigung zu. Die Schuldenregel hat damit ihre ursprüngliche Wirkung weitgehend verloren.
Daneben dürfen sich nun auch die Länder wieder strukturell verschulden. Hinzu kommt das Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität, das den Bund ermächtigt, über einen Zeitraum von zwölf Jahren weitere 500 Milliarden Euro an neuen Schulden aufzunehmen.
Zwar erweitert all dies erst einmal nur den Ermächtigungsrahmen von Parlament und Regierung. Wenn aber Bund und Länder diesen Rahmen ausschöpfen, bedeutet dies zusätzliche Schulden in Milliardenhöhe. Die Schuldenregel verliert damit ihre Funktion als Wächter über solide Staatsfinanzen.
Ohne Hilfe einer „harten Leitplanke“
Es ist davon auszugehen, dass Deutschlands Staatsverschuldung in den kommenden Jahren erheblich ansteigen wird. Sollten Bund und Länder ihren Ermächtigungsrahmen ausschöpfen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Deutschland die EU-Fiskalregeln nicht wird einhalten können. Daraus ergeben sich für mich drei zentrale Gedanken.
Erstens erwächst aus dem neuen Ermächtigungsrahmen eine besondere Verantwortung für Parlament und Regierung. Denn sie müssen nun – ohne die Hilfe einer „harten Leitplanke“ – dafür Sorge tragen, dass die Staatsfinanzen langfristig solide bleiben. Der neue Ermächtigungsrahmen ist eben nur ein Rahmen. Er darf nicht als Einladung verstanden werden, den eröffneten Handlungsspielraum auszureizen. Auch sollte er nicht als Ansporn gesehen werden, möglichst viele im Haushalt bereits veranschlagte Ausgaben als Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung umzuwidmen, um „Freiräume“ für neue konsumtive Ausgaben zu schaffen.
Zweitens sind bei der Frage der Generationengerechtigkeit mit Blick auf die öffentlichen Finanzen stets zwei Dimensionen zu berücksichtigen: Die aktuelle Generation darf durch außerordentliche Herausforderungen, die in ihre Zeit fallen, nicht erdrückt werden. Die Aufnahme von Schulden in solchen Krisenzeiten ist ein probates Mittel, um außerordentliche Belastungen auf mehrere Schultern zu verteilen.
Zugleich dürfen künftige Generationen durch den Schuldendienst aber auch nicht übermäßig in ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Diese unterschiedlichen Interessen sorgfältig auszutarieren, ist Aufgabe des Parlaments. Ziel muss sein, Generationengerechtigkeit als elementaren Grundpfeiler unserer Gesellschaft zu sichern.
Und drittens reicht es für ein nachhaltiges Handeln nicht aus, schlicht mehr öffentliches Geld in ein – womöglich zudem – dysfunktionales System zu geben. Es kommt vielmehr darauf an, dieses Geld für die richtigen Maßnahmen möglichst effektiv und effizient einzusetzen. Angesichts der akuten Bedrohungslage sollte der neue schuldenfinanzierte Handlungsspielraum primär dazu genutzt werden, die Bundeswehr zügig „verteidigungsfit“ zu machen und die Infrastruktur zu modernisieren.
Im besten Falle führen diese Ausgaben zu mehr Wertschöpfung, mehr privaten Investitionen und mehr Wachstum. Dies würde es uns erleichtern, die zusätzlichen Schulden zu bedienen und künftige Generationen beim Schuldendienst zu entlasten.
Kay Scheller ist Präsident des Bundesrechnungshofes
