In Strafverfahren wegen Sexualdelikten gewinnen Chatverläufe über Messenger-Dienste wie WhatsApp, Telegram oder Signal zunehmend an Bedeutung. Da viele mutmaßliche Taten im nicht-öffentlichen Raum stattfinden und Zeugen meist fehlen, stützen sich Ermittlungsbehörden und Gerichte häufig auf digitale Kommunikation, um die Umstände einer angeblich sexuellen Handlung zu rekonstruieren. In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen können Nachrichtenverläufe entscheidende Hinweise auf den Charakter der Beziehung zwischen Beschuldigtem und angeblichem Opfer geben. Insbesondere nach Treffen oder sexuellen Kontakten können Nachrichten, in denen beispielsweise einvernehmlicher Geschlechtsverkehr bestätigt, ein Treffen positiv bewertet oder eine erneute Verabredung gesucht wird, erhebliche Bedeutung für die Verteidigung gewinnen. Umgekehrt können auch belastende Inhalte, wie etwa Geständnisse oder respektlose Kommunikation, die Position der Anklage stützen. Die genaue Einordnung solcher Inhalte verlangt juristische und psychologische Expertise, denn oft ist der Kontext ebenso entscheidend wie der Wortlaut.
Rechtlich betrachtet unterliegen digitale Kommunikationsinhalte denselben Beweismaßstäben wie andere Beweismittel. Sie dürfen verwendet werden, wenn sie rechtmäßig erhoben wurden – etwa durch Sicherstellung eines Mobiltelefons im Rahmen einer Durchsuchung oder freiwillige Vorlage durch den Beschuldigten. Die Strafprozessordnung erlaubt solche Maßnahmen grundsätzlich, sofern ein Anfangsverdacht besteht (§§ 94 ff. StPO). Vorsicht ist geboten, wenn Inhalte aus unrechtmäßigem Zugriff stammen, etwa durch das heimliche Mitlesen fremder Chats oder Zugriffe über Dritte – in solchen Fällen kann ein Beweisverwertungsverbot greifen. Verteidiger analysieren deshalb frühzeitig, ob die Ermittlungsbehörden die rechtlichen Voraussetzungen für die Sicherung und Verwertung der Chatverläufe eingehalten haben. Auch das Persönlichkeitsrecht des mutmaßlich Geschädigten spielt bei der Verwertung eine Rolle, insbesondere wenn sehr private oder intime Details betroffen sind. Eine vollständige, kontextbezogene Bewertung ist daher unverzichtbar – selektiv oder aus dem Zusammenhang gerissene Nachrichten können ein verzerrtes Bild erzeugen.
Für die Verteidigung ist die strategische Bewertung von Chatverläufen ein zentrales Element. Zunächst sollten sämtliche verfügbaren Kommunikationsdaten gesichert, vollständig archiviert und dem Verteidiger übergeben werden – einschließlich Zeitstempel und Metadaten. Wichtig ist es, nicht nur entlastende Passagen auszuwählen, sondern die Kommunikation insgesamt zu analysieren. Verteidiger prüfen dabei insbesondere: Gibt es Anzeichen für einvernehmliches Verhalten? Bestehen Widersprüche zwischen dem Anzeigeverhalten und der digitalen Kommunikation? Hat das angebliche Opfer selbst Kontakt gesucht oder erhaltene Nachrichten in positiver Weise beantwortet? In der gerichtlichen Hauptverhandlung kann die Konfrontation mit Chatverläufen dazu führen, dass Belastungsaussagen relativiert oder entkräftet werden. Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten: Eine ungeschickte oder unvollständige Präsentation kann die Glaubwürdigkeit des Beschuldigten untergraben. Entscheidend ist stets, ob die Nachrichten im Gesamtzusammenhang geeignet sind, Zweifel an der Tatversion der Anklage zu wecken – oder ob sie im Gegenteil das Tatgeschehen bestätigen. In jedem Fall gilt: Chatverläufe sind kein Selbstläufer, sondern erfordern eine präzise, strategisch fundierte Verteidigungsarbeit.