
Im März 2016 erlebte China seinen „Sputnik-Moment“ im Bereich der Künstlichen Intelligenz: AlphaGo, entwickelt vom britischen Unternehmen DeepMind, besiegte den Go-Weltmeister Lee Sedol in einem historischen Wettkampf. Es war der 37. Zug im zweiten Spiel, der die Welt des Go erschütterte: Ein Zug, der die 2000 Jahre alte Go-Strategie auf den Kopf stellte – und dennoch zum Sieg führte. Für China war dies mehr als eine Niederlage – es war ein Moment der Erkenntnis. Das jahrtausendealte Strategiespiel Go, in Asien von überragender kultureller Bedeutung, galt bis dahin als zu komplex für Computer.
Dieser Moment war die Initialzündung für Chinas Ambitionen im Bereich der KI-Entwicklung. Daher sind die jüngsten Ankündigungen von chinesischen KI-Unternehmen wie DeepSeek oder Manus.ai keine Überraschung, sondern vielmehr ein Beleg für den Erfolg dieser Strategie. Anders als viele andere Nationen, die erst Jahre später ihre KI-Strategien entwickelten, reagierte China früh und entschlossen auf die sich abzeichnende Bedeutung der KI.
Strategische Weichenstellung 2017
2017 legte China mit seinem „New Generation Artificial Intelligence Development Plan“ den Grundstein für seine heutige Position. Der Plan definierte klare Ziele: Bis 2025 soll das Reich der Mitte in Schlüsselbereichen wie autonomes Fahren, intelligente Robotik und KI-gestützte Gesundheitsversorgung zur Weltspitze aufschließen. Bis 2030 will das Land gar die globale Führungsrolle in der KI übernehmen, mit umfassender Integration in Wirtschaft, Gesellschaft und Verteidigung.
Bereits damals wurde die entsprechende finanzielle Basis mit Investitionen von über 150 Milliarden US-Dollar geschaffen.
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Das sind Chinas Stärken in der KI-Entwicklung
Anwendungsorientierte Innovation:
China zeichnet sich besonders durch die pragmatische Implementierung von KI-Lösungen aus. Unternehmen wie Deepseek und Manus.ai profitieren dabei von einem einzigartigen Ökosystem. Der riesige chinesische Binnenmarkt bietet ideale Bedingungen für das Testen und Skalieren von KI-Anwendungen. Die weitreichende Digitalisierung des Alltags und die hohe Technologieakzeptanz in der Bevölkerung beschleunigen den Einsatz von KI und lassen umfangreiche Datensätze entstehen, die für das Training von neuen KI-Modellen essenziell sind.
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die enge Verzahnung zwischen Wirtschaft und Forschung. In China gibt es traditionell eine sehr enge Kooperation zwischen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen, anders als in vielen westlichen Ländern. Diese Zusammenarbeit wird durch staatliche Programme gezielt gefördert und ermöglicht eine schnelle Überführung von Forschungsergebnissen in marktreife Produkte.
Wissenschaftliche Exzellenz
In den vergangenen Jahren hat die akademische Landschaft Chinas eine beeindruckende Entwicklung durchlaufen. Das Land hat sich zur führenden Nation bei KI-bezogenen Patentanmeldungen entwickelt und dominiert inzwischen auch die wissenschaftliche Publikationslandschaft. Mehr als 30 Prozent aller weltweiten wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz stammen mittlerweile aus China.
Der systematische Aufbau von KI-Kompetenzzentren an den führenden Universitäten des Landes ist besonders bemerkenswert. Institutionen wie die Tsinghua University und die Peking University haben sich zu globalen Zentren der KI-Forschung entwickelt. Sie ziehen nicht nur die besten Talente des Landes an, sondern locken zunehmend auch internationale Spitzenforscher nach China. Diese Entwicklung wird durch massive Investitionen in Forschungsinfrastruktur und attraktive Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler unterstützt.
Manus AI im Kontext der chinesischen KI-Entwicklung
Manus AI, nach Deepseek das neueste Beispiel chinesischer KI-Innovation, spaltet derzeit die globale Tech-Community. Als allgemeiner KI-Agent konzipiert, repräsentiert Manus einen interessanten Ansatz in der Entwicklung autonomer KI-Systeme. Das Unternehmen demonstriert die zunehmende Reife der chinesischen KI-Landschaft.
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Die technische Architektur von Manus basiert auf der geschickten Integration existierender Modelle, insbesondere Anthropic’s Claude Sonnet 3.5 und optimierte Qwen-Modelle von Alibaba. Besonders macht Manus die Integration von 29 spezialisierten Tools, die es dem System ermöglichen, komplexe Aufgaben autonom zu planen und auszuführen.
Die Stärke des Systems liegt in seiner Fähigkeit, komplexe Aufgaben in durchführbare Teilschritte zu zerlegen. Manus kann selbstständig im Internet recherchieren, Code generieren und verschiedene Werkzeuge für Analysen und Visualisierungen einsetzen, ob Aktienanalysen, Urlaubsplanungen oder Medienauswertungen. In Tests übertraf das System in einigen Bereichen sogar OpenAIs Deep Research, wobei die Qualität der Ergebnisse je nach Aufgabenstellung variierte.
Die Reaktionen der Tech-Community fallen daher unterschiedlich aus. Einige Nutzer sind von den Fähigkeiten des Systems begeistert, während Kritiker in Manus primär einen geschickt konstruierten „Wrapper“ für bereits existierende Modelle sehen. Der Zugang ist derzeit noch auf Beta-Tester beschränkt, daher sind alle Aussagen mit Vorsicht zu genießen.
Im Gegensatz zu anderen chinesischen KI-Entwicklungen wie DeepSeek, die mit fundamentalen technischen Innovationen und Open-Source-Beiträgen aufwarten, liegt Manus‘ Stärke vor allem in der effizienten Integration und Orchestrierung bestehender Technologien.
Der Fall Manus AI zeigt exemplarisch, wie chinesische Unternehmen zunehmend die globale KI-Landschaft prägen. Während westliche Beobachter die tatsächlichen Fähigkeiten von Manus kritisch hinterfragen, unterstreicht die internationale Aufmerksamkeit Chinas wachsenden Einfluss in der KI-Entwicklung.
Doch natürlich gibt es auch Kritik: Bereits zum Launch von DeepSeek merkten viele Benutzer an, dass das chinesische KI-Modell etwa von Zensur betroffen ist. Fragt man den Chatbot etwa nach dem Status Taiwans, wird DeepSeek versuchen, das Thema zu wechseln. Auch was mit den Daten passiert, die von der KI verarbeitet werden, ist nicht klar. In Südkorea war DeepSeek im Februar sogar vorübergehend verboten. Zudem gibt es seit längerem die Kritik und Angst, dass China KI und die leistungsfähigen Chips für militärische Anwendungen und zur Überwachung einsetzt.
KI-Agenten: Die nächste KI-Evolution
2025 läutet das Zeitalter der KI-Agenten ein. OpenAI bezeichnet deren Entwicklung als dritte von fünf Entwicklungsstufen auf dem Weg zur Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AGI). Was gestern noch Science-Fiction war, wird heute Realität: Autonome KI-Systeme, die nicht nur denken, sondern auch handeln können. Anders als klassische Chatbots oder reine Sprachmodelle können KI-Agenten proaktiv handeln, Entscheidungen treffen und verschiedene Werkzeuge kombinieren. Sie repräsentieren damit einen Paradigmenwechsel: von reaktiven Systemen, die auf Befehle warten, zu autonomen Assistenten, die selbstständig komplexe Aufgabenketten bewältigen. Damit revolutionieren KI-Agenten die Art und Weise, wie wir mit Technologie interagieren.
Die Zahlen sprechen für sich: Der Markt für KI-Agenten soll von 5,4 Milliarden Dollar in 2024 jährlich um fast 50 Prozent wachsen. Diese Dynamik sucht selbst im schnelllebigen Tech-Sektor ihresgleichen.
Chinesische Unternehmen wie Manus.ai sind bei dieser Entwicklung nicht nur Mitläufer, sondern gestalten sie aktiv mit. Auch westliche Tech-Giganten wie OpenAI oder Anthropic arbeiten an ihren Agentensystemen. Manus.ai demonstriert mit seinem KI-Agenten bereits heute das Potenzial dieser Technologie. Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis der systematischen chinesischen KI-Strategie, die früh auf die Integration verschiedener KI-Technologien und deren praktische Anwendung setzte.
Die Realität ist jedoch, dass selbst Vorreiter wie Manus.ai noch am Anfang stehen. Die KI-Agenten von heute sind eher digitale Praktikanten als vollwertige Assistenten.
Doch bei der rasanten Entwicklung wird dies nicht mehr lange dauern. Dass OpenAI bereits Preise zwischen 2.000 und 20.000 Dollar monatlich für künftige Agenten-Systeme ankündigt, zeigt: Hier entsteht ein Milliardenmarkt – und China ist mit den USA in der führenden Rolle.
Bedeutung für die deutsche KI-Szene
Das Beispiel Manus.ai zeigt, dass die Einstiegshürden für KI-Innovation heute niedriger sind als je zuvor. Die Verfügbarkeit leistungsfähiger Grundmodelle und Cloud-Infrastrukturen ermöglicht es auch deutschen Startups, mit überschaubaren Investitionen innovative KI-Lösungen zu entwickeln. Die technische Basis für einen KI-Agenten wie Manus.ai liegt nicht mehr im Millionenbereich – es sind vor allem Kreativität und geschickte Integration bestehender Technologien gefragt.
Doch während deutsche Startups durchaus innovative KI-Lösungen entwickeln, schaffen sie es selten, internationale Aufmerksamkeit zu generieren. Die oft hochspezialisierten B2B-Anwendungen deutscher KI-Unternehmen mögen technologisch brillant sein, bleiben aber meist unter dem Radar der globalen Tech-Community. Was fehlt, ist nicht das technische Know-how, sondern die Fähigkeit, Produkte so zu positionieren und zu vermarkten, dass sie weltweit wahrgenommen werden.
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Ganz anders ist es in China. Die Beispiele von DeepSeek und Manus AI zeigen, dass chinesische Startups inzwischen auch beim Thema Marketing mit ihren amerikanischen Konkurrenten mithalten und einen weltweiten Hype generieren können.
China hat übrigens im Jahr 2021 in der 14. Fünfjahresplanung (2021–2025) erneut KI als strategische Schlüsseltechnologie hervorgehoben und setzte verstärkt auf Innovation in Chips, Algorithmen und Supercomputing.
Vor wenigen Tagen wurde die Einrichtung eines staatlichen chinesischen Hightech-Fonds für Investitionen in Spitzentechnologien wie KI, Quantentechnologie und Wasserstoffspeicherung bekannt. Mit dem Fonds sollen zusätzliche Mittel von über 130 Milliarden US-Dollar in diese Technologien fließen.
Chinas systematischer Ansatz in der KI-Entwicklung zeigt bereits deutliche Erfolge. Die Kombination aus staatlicher Förderung, akademischer Forschung und unternehmerischer Innovation schafft ein Ökosystem, das auch in Zukunft bedeutende Durchbrüche erwarten lässt.
Zu wenig Förderung von KI-Innovationen
Insbesondere in Deutschland und Europa sollte man sich kritisch fragen, warum solche Entwicklungen nicht bei uns entstehen. Denn die Voraussetzungen für solche Entwicklungen sind auch hier vorhanden. Nur dass wir in der Umsetzung und Vermarktung deutlich langsamer unterwegs sind und damit Gefahr laufen, auch hier den Anschluss zu verlieren. Nicht, weil wir es nicht könnten, sondern weil wir zu wenig Fokus auf die Förderung und Nutzung von KI-Innovationen legen. Das ist eine Aufgabe für die neue Bundesregierung und die Wirtschaft gleichermaßen.
Dies ist ein Gastbeitrag von Ingo Hoffmann. Er ist ein deutscher Technologie- und Software-Experte mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz sowie deren Kommerzialisierung und verfügt über langjährige Erfahrungen, unter anderem als Vorstand der ADI Innovation AG, als Director bei AppliedAI / UnternehmerTUM, als Director bei IBM Watson sowie als Vice President bei SAP. Hoffmann war Berater der Großen Koalition 2018 bei deren Entwicklung der KI-Strategie und ist heute einer der deutschen Vertreter bei Global Partnership for AI (GPAI), einem Zusammenschluss von 44 Staaten der OECD und GPAI zur Nutzung von KI. Zudem ist Hoffmann Gründungspartner des Risikokapitalfonds AI.FUND, der das Ziel hat, die Potentiale von KI für unternehmerische Investoren zu erschließen.