In Strafverfahren wegen Sexualdelikten ist es nicht ungewöhnlich, dass objektive Beweismittel fehlen. Kein DNA-Nachweis, keine Zeugen, keine Videoaufzeichnung – oft steht allein die Aussage der mutmaßlich geschädigten Person im Raum. Dennoch kann es auch in solchen Konstellationen zu Anklagen und Verurteilungen kommen. Die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ist im Sexualstrafrecht die Regel, nicht die Ausnahme. Für die Verteidigung stellt sich in diesen Verfahren eine besondere Herausforderung: Wie lässt sich gegen einen Vorwurf argumentieren, der allein auf subjektiven Schilderungen basiert? Und worauf kommt es an, wenn keine objektiven Spuren vorhanden sind?
1. Aussage gegen Aussage – kein Beweis, aber ein Problem
Viele Beschuldigte gehen davon aus, dass ein Verfahren ohne objektive Beweise wie DNA-Spuren, Verletzungsbilder oder Zeugen automatisch eingestellt werden müsse. Doch das ist ein Irrtum. In Deutschland kann eine Verurteilung auch dann erfolgen, wenn die einzige Grundlage die glaubhafte Aussage der belastenden Person ist. Voraussetzung ist allerdings, dass das Gericht diese Aussage für besonders glaubhaft und in sich stimmig hält. Dabei sind zahlreiche formale und psychologische Kriterien zu beachten.
Besonders im Sexualstrafrecht ist diese Konstellation häufig: Die Tat spielt sich in einem intimen Kontext ab, etwa in einer Partnerschaft, in einer privaten Wohnung oder zwischen Bekannten. Außenstehende Zeugen fehlen in der Regel. Der Ablauf der Tat wird dann ausschließlich auf Grundlage der Aussagen beider Beteiligten rekonstruiert. Diese Sachverhaltskonstellation wird fälschlich oft als „Beweisnot“ bezeichnet – tatsächlich ist sie für die Verteidigung ein zentrales Risiko, das genau beobachtet und durch geeignete Strategien gesteuert werden muss.
2. Was macht eine Aussage „glaubhaft“ – und wo beginnt der Zweifel?
Damit ein Gericht in einer Aussage-gegen-Aussage-Situation überhaupt verurteilen darf, muss es nach umfassender Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangen, dass die Aussage des mutmaßlich geschädigten Menschen glaubhaft und der Beschuldigte tatsächlich schuldig ist. Bloße Wahrscheinlichkeit oder Plausibilität genügt nicht. Entscheidend ist, dass sich das Gericht eine eigene Überzeugung von der Tat bildet – und zwar jenseits vernünftiger Zweifel.
Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit richtet sich nach verschiedenen Faktoren: Ist die Aussage detailreich? Gibt es Widersprüche im Verlauf? Ist die Darstellung aus sich heraus logisch? Gibt es sogenannte Realkennzeichen – also Merkmale, die auf tatsächliches Erleben hindeuten, wie spontane Korrekturen, Einbettung in Alltagszusammenhänge oder konsistente Wiederholung über mehrere Vernehmungen hinweg?
Auch negative Indikatoren spielen eine Rolle: Schemenhafte Erzählweise, fehlende Konkretheit, starre Reproduktion oder narrative Lücken können Zweifel an der Aussagequalität begründen. In vielen Fällen lassen sich durch sorgfältige Analyse der Ermittlungsakten und Vernehmungsprotokolle Hinweise auf suggestive Einflüsse, nachträgliche Erinnerungskonstruktionen oder Belastungsmotive finden.
Ein wichtiger Verteidigungsansatz liegt in der Widerspruchsanalyse: Hat sich die Schilderung im Laufe des Verfahrens verändert? Gab es Kommunikationskontakte zwischen Beteiligten, die das Verhalten des angeblichen Opfers nicht stützen? Sind bestimmte Details objektiv widerlegbar – etwa durch Zeitangaben, Ortsverhältnisse oder externe Daten wie Chatverläufe?
3. Verteidigungsstrategie in der Beweislücke – was kann der Strafverteidiger tun?
In Verfahren ohne objektive Beweise ist der Verteidiger gefordert, auf jedes Detail zu achten. Neben der vollständigen Aktenanalyse steht die Frage im Mittelpunkt, ob und wie sich Zweifel an der Glaubhaftigkeit systematisch aufbauen lassen. Das beginnt bei der präzisen Rekonstruktion des Kontakts zwischen den Beteiligten – vor, während und nach der angeblichen Tat. Welche Kommunikationsformen gab es? Gab es weitere Treffen oder Kontaktversuche? Wie hat sich das angebliche Opfer unmittelbar nach dem Vorfall verhalten?
Je nach Verfahrenslage kann ein aussagepsychologisches Gutachten sinnvoll sein – insbesondere, wenn die Aussage die einzige Belastungsgrundlage darstellt. Sachverständige können bewerten, ob die Aussage die wissenschaftlich anerkannten Kriterien erfüllt. Auch private Verhaltensmuster, soziale Bindungen, medizinische Dokumentationen oder familienrechtliche Akten können wichtige Mosaiksteine einer entlastenden Gesamtbetrachtung sein.
Für die Verteidigung gilt: In solchen Verfahren kommt es weniger auf das „Gegenteilbeweisen“ an – denn das ist in der Regel nicht möglich. Entscheidend ist es vielmehr, berechtigte Zweifel zu begründen und damit die Schwelle zur Überzeugungsbildung des Gerichts zu unterlaufen. Der Maßstab lautet: Im Zweifel für den Angeklagten.
Fazit:
Verfahren ohne objektive Spurenlage gehören zum Alltag im Sexualstrafrecht. Auch ohne Beweise kann es zu Anklage oder gar Verurteilung kommen – wenn die Aussage des mutmaßlichen Opfers als glaubhaft gewertet wird. Genau deshalb ist eine hoch spezialisierte Verteidigung unabdingbar. Nur wer systematisch Zweifel streut, Widersprüche aufdeckt und suggestive Einflussnahmen erkennt, kann den Grundsatz der Unschuldsvermutung wirksam verteidigen. In dieser Konstellation entscheidet nicht das, was sichtbar ist – sondern das, was nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann.