Zwangsversteigerungen bieten Chancen für Käufer, aber auch Risiken für die bisherigen Bewohner. In Berlin-Neukölln wurde ein Haus versteigert. Ich war dabei und überrascht über den dramatischen Verlauf.
Es ist ein warmer Donnerstag im Mai in Berlin-Neukölln. Es ist ein besonderer Tag, denn Menschen könnten heute stolze Besitzer einer Immobilie werden – und andere ihr Zuhause verlieren. Auf der Uhr über dem Eingang des Amtsgerichts steht 9:45 Uhr. In einer Viertelstunde beginnt die Zwangsversteigerung eines Einfamilienhauses in Neukölln.
Um was für eine Immobilie es sich handelt, kann man vorab auf verschiedenen Portalen zu dem Thema erfahren. Das Haus, um das es an diesem Tag geht, hat zwei Geschosse, ist teilsaniert und verfügt über 137 Quadratmeter Wohnfläche. Dazu gehört ein 902 Quadratmeter großes Grundstück. Ein Gutachten bemisst den Verkehrswert auf 605.000 Euro. Für Berliner Verhältnisse nicht übermäßig teuer.
Teilungsversteigerung: Das bedeutet diese Form der Zwangsversteigerung
Im kleinen Sitzungssaal 128 des Amtsgerichts Neuköllns finden sich knapp 20 Leute zusammen. Die Richterin eröffnet den Termin und liest die Formalien vor. Doch es gibt eine Besonderheit. Heute handelt es sich um eine Teilungsversteigerung. Das bedeutet, dass Grundstück und Haus im Besitz von vier verschiedenen Personen liegt und jetzt zwangsversteigert werden sollen. Das eingenommene Geld wird dann unter den Parteien aufgeteilt. Juristen nennen das eine „Zwangsversteigerung zur Aufhebung der Gemeinschaft“.
Ein Antrag auf Aufhebung des Zwangsversteigerungstermins von einer Anteilseignerin wird abgelehnt. Später erklärt mir ein Anwesender, dass es sich dabei um eine Mutter mit zwei Kindern handelt, die noch immer in dem Haus wohnt und keine neue Wohnung findet. Vor solchen Dingen machen Zwangsversteigerungen allerdings keinen Halt.
Das Mindestgebot liegt bei rund 97.000 Euro. Daneben liegt auf der Immobilie noch eine Grundschuld von 170.000 Euro in Form eines Kredits bei der Commerzbank, inklusive 15 Prozent Zinsen. Heißt: Wer heute 100.000 Euro bietet, zahlt eigentlich 270.000 Euro.
30 Minuten Zeit für die Bieter
Um 10:19 Uhr eröffnet die Richterin dann die Bietzeit. Sie läuft genau 30 Minuten und in dieser Zeit können Bieter nach vorne kommen und Gebote abgeben. Mitbieten kann jeder, der eine Sicherheitsleistung erbringt. Sie beträgt zehn Prozent des Verkaufswerts, hier also 60.500 Euro. Das Geld muss vorab auf das Konto des Gerichts überwiesen werden. Alternativ kann man einen Bankenscheck oder eine Bürgschaft der Bank mitbringen.
Nur eine Minute nach Eröffnung der Bietzeit steht der erste Bieter, ein älterer Mann in Lederjacke und mit Bürstenhaarschnitt, bei der Richterin und bietet 100.000 Euro. Es folgt ein junger Mann mit Bart und bietet 130.000 Euro. Bieter Nummer drei, ein Mann mit buntem Hemd, bietet 150.000 Euro. Die Richterin weist jeden noch einmal darauf hin, die 170.000 Grundschuld nicht zu vergessen. Bieter Nummer drei würde am Ende also 320.000 Euro für das Haus zahlen.
Doch dann passiert etwas Ungewöhnliches. Hinter mir sitzt ein junges Paar. Der Mann trägt eine Baseball-Cap und hat Kopfhörer in den Ohren. Er geht nach vorn – und bietet 400.000 Euro. Die Richterin guckt ihn erstaunt an und erklärt ihm mehrfach, dass er die Grundschuld dazu rechnen müsse. Er beteuert, es verstanden zu haben.
Gebot springt um 250.000 Euro nach oben
Bemerkenswert ist auch: Der junge Mann hat keine Sicherheitsleistung erbracht, erklärt aber, die schon vorab überwiesen gehabt zu haben. Anscheinend sei die nicht rechtzeitig angekommen. Der Anwalt, der die Hauseigentümer vertritt, gibt der Richterin zu verstehen, dass er auf die Sicherheit verzichte. Das steht den Anwälten der Parteien in diesem Fall zu. Also ruft die Richterin das Gebot aus. 400.000 Euro. Rumms.
Die Ersten verlassen den Sitzungssaal, ein Schnäppchen konnten sie hier nicht schlagen. Doch ein neuer Bieter erhöht auf 410.000 Euro. Das Pärchen lässt nicht locker. Neues Gebot 500.000 Euro.
Die letzten zehn Minuten verbringen wir in gespannter Stille
Mehr und mehr Menschen verlassen den Saal und um 10:49 Uhr wechselt das Haus die Besitzer.
Das Pärchen erhält den Zuschlag und erwirbt die Immobilie für 500.000 Euro – eigentlich 670.000 Euro, wenn man die Grundschuld noch mit einrechnet. Damit liegt der Verkaufspreis deutlich über dem vorab taxierten Gutachter-Preis von 600.000 Euro. Das Pärchen hat jetzt knapp drei Monate, um den Betrag zu bezahlen. Dazu kommen die Zinsen.
Fest steht jetzt aber auch: Die Mutter mit ihren zwei Kindern muss das Haus räumen und sich eine neue Wohnung suchen. Nur ein Mietverhältnis hätte sie vielleicht gerettet.
Doch selbst wenn sie einen Mietvertrag mit den anderen Eigentümern geschlossen hätte, hätte sie am Ende ausziehen müssen, sollte das neue Pärchen Eigenbedarf ankündigen.
Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2023 bei Business Insider veröffentlicht.