Die Strecke Berlin-Hamburg ist für neun Monate gesperrt. Die Auswirkungen für Pendler sind teils gravierend. Ein Arbeitgeber in Wittenberge sorgt dafür, dass Angestellte zur Arbeit kommen können.
Rund anderthalb Stunden braucht Siarhei Barysik zur Arbeit – normalerweise. Von Berlin-Neukölln fährt der Facharzt für Innere Medizin mit S-Bahn und ICE bis nach Wittenberge. Einmal umsteigen, die reine Fahrtzeit beträgt rund eine Stunde und 20 Minuten.
Danach noch per Fuß zum Gesundheitszentrum der Stadt, seiner Arbeitsstelle. „Das dauert zehn Minuten. Ich bin eigentlich schon fast auf der Arbeit.“ Es ist keine kurze Anreise, aber machbar für Barysik. Doch damit ist jetzt erst einmal Schluss.
Vom 1. August an sperrt die Bahn die Strecke zwischen Berlin und Hamburg für neun Monate. Das heißt, dass täglich etwa 470 Züge einen Umweg nehmen müssen. Oder aber es bedeutet stundenlanges Fahren im Schienenersatzverkehr.
Internist Siarhei Barysik hat normalerweise einen anderthalbstündigen Arbeitsweg. Jetzt wären es drei Stunden.
Wittenberge liegt auf halber Strecke
Wittenberge trifft es am härtesten. Die 17.000-Einwohner-Stadt im Nordwesten Brandenburgs liegt genau in der Mitte zwischen Hamburg und Berlin. Jeden Tag pendeln Wittenberger in beide Metropolen, aber es fahren eben auch Leute hierher. So wie der Mediziner Barysik. Mehr als drei Stunden würde seine Fahrtzeit mit dem von der Bahn organisierten Ersatzverkehr betragen – für eine Strecke. Abends dann wieder zurück, ein dreiviertel Jahr lang. S-Bahn, Schnellzug, Bus, Fußweg: realistisch betrachtet ist das nicht machbar.
Was die Generalsanierung der Bahn für ihn bedeutet, hatte Barysik bis vor kurzem gar nicht auf dem Schirm. „Ehrlich gesagt war das eine Überraschung für mich“, sagt er. Höflich umschreibt er das, was ihm an Arbeitsweg droht als „Belastung“.
Kündigt auch nur ein Arzt, gibt es ein riesiges Problem
Barysiks Glück: Die Hausarztpraxis, in der er arbeitet, gehört zu einem größeren Unternehmen, der Elbmed-Prignitz-Gruppe. Das Unternehmen betreibt auch das Prignitz-Kreiskrankenhaus im benachbarten Perleberg. Der Nordwesten Brandenburgs wird gerne genannt, wenn ein Beispiel für „strukturschwache Regionen“ bemüht wird.
Praktisch heißt das: Fachkräftemangel ist hier Alltag. Ärzte sind rar, die Dienstpläne auf Kante genäht. Sollte auch nur ein Arzt kündigen, wäre das ein Riesenproblem. Nicht ausgeschlossen in Anbetracht der monatelangen Streckensperrung.
Karsten Krüger, Geschäftsführer des Elbmed-Krankenhauses, musste sich etwas einfallen lassen. Ihm war klar, dass einige seiner Arbeitnehmer sechs Stunden reine Fahrtzeit pro Tag wohl nicht mitmachen würden: „Wir haben eben den Worst Case gesehen“, sagt er.
Selbstorganisierter Pendelbetrieb nach Stendal
Krüger entschloss sich zu investieren: „Für zwei Kollegen haben wir ein Elektrofahrzeug beschafft.“ Damit können diese zwischen Berlin und der Prignitz pendeln. Das aber reicht nicht.
Die Klinik wird auch noch einen eigenen Shuttle-Service betreiben, hat ein weiteres Auto angeschafft. „Kollegen haben einen Personenbeförderungsschein absolviert“, berichtet Krüger.
Das Shuttle fährt künftig zwischen dem Standort Perleberg und dem rund 70 Kilometer entfernten Stendal hin und her. Denn Stendal hat – dank der Umleitung – einen ICE-Anschluss nach Berlin. Für das Unternehmen mit insgesamt 1.150 Mitarbeitern ist die Lösung ein kleiner finanzieller Kraftakt.
Volle Ausweichstraßen sind zu befürchten
Ob das alles so klappt, wird sich erst zeigen. Das Shuttle muss über die viel befahrene Bundesstraße 189, auf der nahegelegenen Autobahn A14 gibt es viele Baustellen, auf anderen Land- und Bundesstraßen ebenfalls. Kurzum: Es könnte voll werden auf den Ausweichstraßen. Vor demselben Problem stehen auch alle Pendler, die individuell aufs Auto ausweichen wollen.
Krüger hat alle möglichen Anfahrtswege für das Personal durchgerechnet, kann die Nummern von Bundes- und Landstraßen rund um Wittenberge und Perleberg runterrattern. Die Fahrpläne der Bahn hat er im Kopf. Wenn der Klinikchef die Lage schildert, klingt er eher wie ein Verkehrsplaner.
„Genug Gründe zum Verzweifeln“
Was von seinen Lösungsansätzen am Ende tatsächlich klappt, kann er dennoch nicht vorhersagen. „Das müssen wir ausprobieren, da sind wir ja flexibel“, sagt er lakonisch. Und, dass sie „genug Gründe hätten“ um zu verzweifeln.
Die Corona-Zeit habe schon riesige Herausforderungen gebracht. Nun sei man eben gezwungen, quasi in den öffentlichen Nahverkehr einzusteigen. Am Ende sei das Problem, dass das alles Geld kostet. Und dies sei in der Krankenhausbranche ohnehin knapp. Dennoch seien die Ausgaben für Shuttle-Service und E-Auto gut angelegt, um das Personal zu halten.
Der Plan könnte aufgehen. Internist Barysik sagt: „Für mich steht fest, dass ich hier bleibe. 100 Prozent.“ Die Atmosphäre sei gut, das Team auch und der Arbeitsweg – dank der Unterstützung seines Arbeitgebers – dauere die nächsten neun Monate „nur“ zwei Stunden.