Die EU und Großbritannien richten nach dem Brexit ihre Beziehungen neu aus. Bei Verteidigung, Fischerei oder Lebensmittelkontrollen soll es eine engere Zusammenarbeit geben. Doch noch gibt es Streitpunkte.
Mehr als fünf Jahre nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU haben sich beide Seiten auf eine Wiederannäherung verständigt. Beim ersten Gipfeltreffen von Spitzenpolitikern der EU und Großbritanniens seit dem Brexit einigten sich die Seiten auf eine engere Zusammenarbeit, wie die britische Regierung mitteilte. Adressiert sind in der Vereinbarung demnach die Themenfelder Verteidigung, Sicherheit, Fischerei, Lebensmittelkontrollen und Jugendmobilität.
Die Einigung markiert die bedeutendste Neuausrichtung der Beziehungen beider Seiten seit dem Brexit im Januar 2020. „Es ist Zeit, nach vorne zu blicken – die alten politischen Auseinandersetzungen hinter uns zu lassen und pragmatische Lösungen zu finden, die das Leben der Briten verbessern“, teilte der britische Premierminister Keir Starmer mit. Der mit den Verhandlungen vertraute britische Minister Nick Thomas-Symonds sprach von einem „historischen Tag“.
Nach dem Treffen in London mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident António Costa sprach Starmer von einem „Win-Win“ für beide Seiten. „Großbritannien ist zurück auf der Weltbühne“, so der Premierminister. EU-Ratspräsident Costa nannte die Einigung „ein neues Kapitel in unseren Beziehungen“. Von der Leyen fügte hinzu: „In einer Zeit globaler Instabilität und angesichts der größten Bedrohung unseres Kontinents seit Generationen halten wir in Europa zusammen.“
Zugang zu EU-Verteidigungsmilliarden?
Als zentraler Pfeiler gilt der Bereich Verteidigung, in dem sich die EU und Großbritannien bereits seit längerem annähern. Das Verteidigungsabkommen soll es britischen Unternehmen laut der Regierung in London ermöglichen, an EU-Rüstungsprojekten beteiligt zu werden – unter anderem dem geplanten 150 Milliarden Euro schweren Topf zur Wiederaufrüstung.
Zudem wollen die beiden Seiten Berichten zufolge enger beim Schutz kritischer Infrastruktur zusammenarbeiten. Jüngst kam es etwa immer wieder zu Schäden an Unterseekabeln. Darüber hinaus ist mehr Kooperation mit Blick auf Sicherheit im Weltall geplant und es sollen künftig mehr Daten über irreguläre Migration ausgetauscht werden.
Streitpunkte Fischerei und Jugendmobilität
Über Details der Abkommen war bis zum späten Sonntagabend verhandelt worden. Streitpunkte waren vor allem die Fischereirechte sowie die Jugendmobilität zwischen der EU und Großbritannien, die es jungen Menschen erleichtern soll, für eine begrenzte Zeit im Ausland zur Schule zu gehen, zu studieren oder zu arbeiten.
Dem Abkommen zufolge wird Großbritannien seine Gewässer nach Ablauf des derzeitigen Abkommens im Jahr 2026 zwölf Jahre lang für europäische Fischer offen halten. Im Gegenzug werde die EU die Bürokratie für Lebensmittelimporte aus Großbritannien auf unbestimmte Zeit lockern.
In Bezug auf die Jugendmobilität einigten sich beide Seiten nur auf eine sehr allgemeine Formulierung, die in späteren Verhandlungen konkretisiert werden soll. Vor allem die Bundesregierung hatte darauf gepocht, dass junge Menschen aus der EU wieder einfacher für begrenzte Zeit im Vereinigten Königreich leben und arbeiten können.
Kritik aus dem Lager der Brexit-Verfechter
Aus Londoner Sicht ist das Thema Jugendmobilität aber heikel, weil es Wasser auf die Mühlen des Brexit-Vorkämpfers und Rechtspopulisten Nigel Farage sein könnte, dessen Partei Reform UK in Umfragen derzeit vor den Volksparteien Labour und den Konservativen liegt. Der stellvertretende Vorsitzende von Reform UK, Richard Tice, kritisierte das Abkommen scharf. Starmer „kapituliere“ vor Brüssel, betreibe einen Ausverkauf der britischen Fischereiwirtschaft und wolle „Millionen von EU-Einwanderern“ ins Land lassen, so Tice.
Die Vorsitzende der Konservativen Partei, Kemi Badenoch, bezeichnete die Einigung als sehr besorgniserregend. Großbritannien werde künftig wieder Regeln aus Brüssel akzeptieren müssen, so die Brexit-Unterstützerin.
Mehrheit der Briten bereut Brexit-Entscheidung
Das britische Referendum von 2016 zum EU-Austritt offenbarte eine tiefe Spaltung der britischen Gesellschaft. Nur eine knappe Mehrheit sprach sich für den drastischen Schritt aus, in dessen Folge die britische Wirtschaft unter Druck geriet. Seit 2020 ist das Vereinigte Königreich offiziell nicht mehr Teil der EU, seit 2021 auch nicht mehr Mitglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts.
Die Beziehungen zu Brüssel wurden erheblich belastet. Fünf Premierminister amtierten, bevor Starmer im vergangenen Juli sein Amt antrat. Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Briten die Brexit-Entscheidung bereut. Es gibt jedoch wenig Interesse an einem Wiedereintritt in die EU.
Unter Starmer hat sich Großbritannien kontinuierlich der EU und vor allem Frankreich und Deutschland wieder angenähert. Dies kommt vor allem auch im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump zum Ausdruck. In diesem Bereich bemühen sich die Regierungen in London und Paris gemeinsam mit dem neuen Bundeskanzler Friedrich Merz um ein einheitliches Vorgehen, auch zusammen mit Polens Ministerpräsident Donald Tusk.
Franziska Hoppen, ARD London, tagesschau, 19.05.2025 13:31 Uhr