Angesichts des aktuellen Rechtsrahmens haben Beschuldigten, die Ausländer sind und kein Portugiesisch sprechen oder verstehen, Anspruch auf eine Übersetzung mehrerer Elemente der strafrechtlichen Ermittlungen.
Der Anspruch auf Kenntnis der in den Akten enthaltenen Beweise sowie der Verfahrensschritte im Zusammenhang mit ihrer Erhebung und Bewertung ist ein Recht, das den Beschuldigten gemäß dem portugiesischen Strafprozessrecht und den in der Verfassung der Portugiesischen Republik vorgesehenen Verteidigungsgarantien zusteht.
Tatsächlich ergibt sich aus dem Verständnis der «Anklage» (im weitesten Sinne verstanden als die Unterstellung strafrechtlich relevanter Tatsachen, die angeblich durch die in den Akten enthaltenen Beweise gestützt werden) die Möglichkeit, die Verteidigungsrechte wirksam auszuüben, insbesondere aus der mehr oder weniger effektiven Art und Weise, in der mit dem Anwalt kommuniziert wird.
Dolmetschen und Übersetzen im Rahmen eines Strafverfahrens sind im portugiesischen Rechtssystem in Artikel 92 der portugiesischen Strafprozessordnung vorgesehen. Darüber hinaus ist die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren[1] anwendbar.
Das Recht der Europäischen Union verpflichtet grundsätzlich zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Anders ausgedrückt: Bei der Auslegung einer innerstaatlichen Vorschrift, die mit den Bestimmungen der Richtlinie 2010/64/EU in Konflikt steht, ist der Interpret verpflichtet, ein Auslegungsergebnis zu wählen, das den in dieser Richtlinie enthaltenen Verpflichtungen entspricht.
Können die durch die Richtlinie 2010/64/EU geschaffenen Verpflichtungen nicht durch eine entsprechende Auslegung erfüllt werden, ist die Regelung der Richtlinie 2010/64/EU unmittelbar anzuwenden, sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind:
- Die interne Umsetzungsfrist der Richtlinie ist bereits abgelaufen;
- Die betreffende Regelung begründet Rechte;
- Ihr Inhalt ist hinreichend klar, präzise und bedingungslos, sodass weder durch die Mitgliedstaaten noch durch die Organe der Union ein Umsetzungsakt erforderlich ist.
Da die Frist für die Umsetzung in Portugal bereits abgelaufen ist (27.10.2013) und die Richtlinie 2010/64/EU ohne Umsetzungsinstrument angewendet werden kann und den Empfängern Rechte einräumt (insbesondere im Zusammenhang mit Dolmetsch- und Übersetzungsdiensten in Strafverfahren), sind ihre Bestimmungen im portugiesischen Rechtssystem anwendbar, entweder durch Auslegung interner Vorschriften gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2010/64/EU oder durch unmittelbare Anwendung.
In Erwägungsgrund 14 der Richtlinie 2010/64/EU heißt es: «Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Artikel 6 EMRK in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten».
Insbesondere gilt Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 2010/64/EU, der vorsieht, dass Verdächtigen oder Beschuldigten, die die Verfahrenssprache nicht verstehen, «eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten».
Dieser Artikel 3 steht in direktem Zusammenhang mit Artikel 7 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren[2], der im gleichen Umfang anwendbar ist und in dessen Absatz 1 Folgendes festgelegt ist: «Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden».
Wesentliche Dokumente, seien sie ausdrücklich als solche bezeichnet oder für die Gewährleistung eines gerechten und fairen Verfahrens von wesentlicher Bedeutung, müssen daher immer dann übersetzt werden, wenn dies für das Verständnis der gegen sie erhobenen Vorwürfe in rechtlicher, sachlicher oder beweisrechtlicher Hinsicht durch den Beschuldigten erforderlich ist (Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 2010/64/EU).
Gemäß der Richtlinie 2010/64/EU sind die in Artikel 3 Absatz 2 aufgeführten Dokumente, darunter «die Anklageschrift und jegliches Urteil», unerlässlich.
Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 2010/64/EU besagt außerdem: «Die zuständigen Behörden entscheiden im konkreten Fall darüber, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihr Rechtsbeistand können einen entsprechenden begründeten Antrag stellen».
Der in der Richtlinie 2010/64/EU enthaltene Begriff der «Anklage» ist ein eigenständiger Begriff des europäischen Rechts und nicht identisch mit dem formellen Begriff der «Anklage» in der portugiesischen Strafprozessordnung.
Dieser Umstand erfordert unmittelbar eine einheitliche Auslegung und führt dazu, dass im Zweifelsfall eine Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ersucht werden muss. Denn der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) fördert eine einheitliche Auslegung und Anwendung des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten und bietet den Gerichten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem EuGH Vorabfragen zur Auslegung des EU-Rechts vorzulegen, wenn für deren Entscheidung eine Entscheidung des EuGH erforderlich ist.
Daher muss die Auslegung der in den Richtlinien enthaltenen Begriffe, insbesondere des Begriffs «Anklage» in der Richtlinie 2010/64/EU, im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union erfolgen, insbesondere gemäß den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), die jeweils die Überschriften Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht und Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte tragen.
Dieser autonome Begriff der «Anklage» muss alle Unterstellungen umfassen, die sich gegen den Verdächtigten richten, und zwar bereits vor der Erhebung der formellen Anklage.
Durch die Erwähnung der «Verdächtigen oder Beschuldigten» als Inhaber des Rechts wird deutlich, dass damit auch der Moment vor der formellen Handlung der Anklageerhebung abgedeckt sein soll, d. h. der Handlung, mit dem entschieden wird, jemanden wegen bestimmter Tatsachen vor Gericht zu stellen.
Schließlich entspricht der Begriff der «Anklage» in der Richtlinie 2010/64/EU dem in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entwickelten Begriff. Eine Person gilt im Sinne von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als «angeklagt», sobald ihre Lage durch Ermittlungshandlungen «erheblich beeinträchtigt» wird, unabhängig davon, ob bereits förmlich Anklage erhoben wurde.
Unter «Anklage» im Sinne von Artikel 6 Absätze 2 und 3 EMRK versteht man die offizielle Zustellung einer Person durch die zuständige Behörde über gegen sie erhobene Vorwürfe der Begehung einer Straftat. Diese Definition kann auch der Beurteilung entsprechen, ob die Situation der Person erheblich beeinträchtigt wurde.
Die Tatsache, dass es sich bei diesen Dokumenten ausdrücklich um «wesentliche Dokumente» im Sinne der Richtlinie 2010/64/EU handelt, impliziert auch, dass andere Dokumente für die Verteidigung der Beschuldigten wesentlich sind und daher übersetzt werden müssen.
Denn um die «Anklage» in diesem eigenständigen Sinne (die gegen sie erhobenen Vorwürfe und die formelle Anklage) zu verstehen und sich dagegen verteidigen zu können, müssen die Beschuldigten auch die Beweise verstehen, auf denen die Vorwürfe und die formelle Anklage basieren, sowie die tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen, unter denen sie erlangt wurden, damit sie, falls sie dies wünschen, das kontradiktorische Verfahren anwenden und dessen Zuverlässigkeit, Wert und Rechtmäßigkeit beurteilen können.
Die Möglichkeit, Beweise zu prüfen, ergibt sich nicht allein aus der Existenz eines Rechts darauf, sondern aus der tatsächlichen Möglichkeit, ihnen zu widersprechen, und hierfür ist es unbedingt erforderlich, sie verstehen zu können.
Die Kenntnis des Verfahrens hängt unmittelbar mit der Verständlichkeit der Akteninhalte zusammen. Daher ist die Übersetzung der darin enthaltenen Dokumente zwingend und notwendig, wenn diese für die Position des Beschuldigten im Verfahren von wesentlicher Bedeutung sind.
Die portugiesische Strafprozessordnung enthält nur zwei Vorschriften zur Übersetzung von Dokumenten, die eindeutig auf die Übersetzung fremdsprachiger Dokumente ins Portugiesische zugeschnitten sind (Artikel 92 Absatz 6 und Artikel 166 Absatz 1).
Da jedoch in der portugiesischen Strafprozessordnung nicht zwischen den Begriffen Dolmetscher (für mündliche Gespräche) und Übersetzer (für die Übersetzung schriftlicher Dokumente) unterschieden wird (vgl. Absätze 2 und 3 sowie Absatz 6 von Artikel 92), muss die in Artikel 92 Absatz 2 (und Absatz 3) vorgesehene Bestimmung zur Bestellung eines Dolmetschers dahingehend ausgelegt werden, dass zu den Aufgaben des Dolmetschers auch die Übersetzung von Dokumenten in eine Sprache gehört, die der Beschuldigte versteht, einschließlich der wesentlichen Dokumente im Sinne von Artikel 3 Absätze 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64/EU.
Unter Berücksichtigung all dessen muss den Beschuldigten die Übersetzung von Dokumenten garantiert werden, die unter das oben genannte Konzept der Wesentlichkeit fallen, sei es durch direkte Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder durch Anwendung des in Übereinstimmung mit diesem Recht ausgelegten nationalen Rechts.
Die Anwendung von Artikel 92 Absatz 6 der portugiesischen Strafprozessordnung unter der Voraussetzung, dass der Beschuldigte die portugiesische Sprache versteht, würde eine diskriminierende Situation darstellen, da sie das Recht auf Gleichbehandlung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten beeinträchtigen könnte, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten. Nationale Regelungen über die Verfahrenssprache vor den Gerichten dieses Staates müssen mit Artikel 6 EMRK im Einklang stehen.
Es wird weiter ausgeführt, dass es für die Beschuldigten nicht ausreicht, eine mündliche Zusammenfassung der oben genannten Dokumente zu hören, da die Länge, Spezialisierung und Fachlichkeit der verwendeten Begriffe sie daran hindert, ihren Inhalt zu verstehen und sich einzuprägen oder aufzuzeichnen. Nur eine schriftliche Übersetzung wird es den Beschuldigten ermöglichen, sie in ihrem eigenen Tempo zu prüfen, was ihnen bei der Vorbereitung ihrer Verteidigung helfen wird.
Insbesondere handelt es sich bei Beweismitteln um Dienstinformationen, Nachrichtenberichte, Beschlagnahmeberichte und Durchsuchungs- und Beschlagnahmeberichte oder sonstige Fachsprache, die für die Beschuldigten schwer verständlich sind und deren schriftliche Übersetzung daher nicht durch eine mündliche Zusammenfassung ersetzt werden kann.
Die Beschuldigten sind nicht in der Lage, sich mündlich übermittelte Informationen dauerhaft zu merken.
Der mündliche Charakter des Übersetzungsverfahrens würde die Gerechtigkeit, die durch die genannten Regelungen gewährleistet werden soll, ernsthaft beeinträchtigen.
Beschuldigten haben Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz, und die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sicherzustellen, dass nationale Entscheidungen und Verfahrensregeln die Durchsetzung von Ansprüchen auf Grundlage des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
Darüber hinaus ergibt sich die Möglichkeit zur Einsichtnahme in Beweismittel nicht allein aus der Existenz eines Rechts hierzu, sondern vielmehr aus der tatsächlichen Möglichkeit, diesen zu widersprechen, und hierfür ist es zwingend erforderlich, diese auch verstehen zu können.
Eine andere Auffassung stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gemäß den Bestimmungen in Artikel 61 Absatz 1 Buchstabe g) der portugiesischen Strafprozessordnung, Artikel 32 Absatz 5 der Verfassung der Portugiesischen Republik, Artikel 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und Artikel 6 Absatz 1 der EMRK dar.
Dazu würde eine andere Auffassung immer noch den Grundsatz der Waffengleichheit gemäß Artikel 20 Absatz 4 und 32 Absatz 1 der Verfassung der Portugiesischen Republik, Artikel 10 der AEMR, Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und Artikel 47 der GRCh verletzen. Dem Beschuldigten müssen alle zu seiner Verteidigung notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, und der Fall, in den er eingreift, muss in einem fairen Verfahren verhandelt werden (Artikel 32 Absatz 1 und 20 Absatz 4 der Verfassung der Portugiesischen Republik).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kenntnis des Verfahrens durch einen Beschuldigten, der kein Portugiesisch spricht, von der Übersetzung der für die Ausübung der Verteidigungsrechte wesentlichen Dokumente in seine Sprache abhängt. Dies muss unter Einhaltung der Anwendung der portugiesischen Strafprozessordnung im Einklang mit dem europäischen Recht erfolgen.
[1] Siehe: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32010L0064.
[2] Siehe: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32012L0013.
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