Um weniger abhängig von Gas und Öl zu sein, setzt Brandenburg an der Havel auf den Ausbau der Fernwärme – mit einer ungewöhnlich langen Leitung. Das Beispiel der Stadt zeigt, welche Hindernisse es bei der Wärmewende gibt und wie sie sich überwinden lassen.
Brandenburg an der Havel ist eine Stadt der Baustellen. Am Ortseingang wird eine Brücke über die Bahnlinie nach Berlin ersetzt. In einem Gründerzeitviertel schlängeln sich die Autos seit Monaten durch Einbahnstraßen. Und in der Altstadt wird das Kopfsteinpflaster aufgerissen, Vollsperrungen und Umleitung der Straßenbahn inklusive. Dass in Brandenburg an der Havel so viel gebaut wird, liegt an der Infrastruktur, die so marode ist wie im restlichen Land.
Aber es liegt auch an Steffen Scheller und Gunter Haase. Scheller ist Oberbürgermeister der CDU, Haase technischer Geschäftsführer der Stadtwerke. Beide Männer haben Entscheidungen getroffen, die zunächst zwar zu mehr Baustellen geführt haben, langfristig aber die Stadt entlasten sollen.
Bis 2045 will Deutschland klimaneutral werden, Europa bis 2050. Auch wenn dieses Ziel zunehmend infrage gestellt wird, dürfte die neue Regierung versuchen, weniger abhängig von Gas, Öl und Kohle zu werden. Eine wichtige Rolle spielen die Kommunen. Bis 2028 müssen sie Pläne vorlegen, wie sie die sogenannte Wärmewende umsetzen wollen. Brandenburg an der Havel setzt auf den Aus- und Umbau der Fernwärme – und hat dafür nicht besonders tief, aber weit gegraben.
Noch im vergangenen Winter versorgten mehrere Gasbrenner in einer Halle im Gewerbegebiet die Stadt mit Wärme. Mittlerweile stehen sie still, die Stadtwerke beziehen jetzt die Wärme über eine neue Fernwärmeleitung aus einem Müllheizkraftwerk. Dort wird entsalztes Wasser erhitzt, das dann in Gunter Haases Heizkraftwerk über einen großen Wärmetauscher seine Energie an das Fernwärmenetz der Stadt abgibt.
Der Clou: Das Müllheizkraftwerk steht gar nicht in Brandenburg an der Havel, sondern in der 20 Kilometer entfernten Kleinstadt Premnitz. Das Wasser fließt mit 130 Grad los – aufgrund des erhöhten Drucks verdampft es bei dieser Temperatur nicht. „Raten Sie mal, wie groß der Wärmeverlust auf dieser Strecke ist“, fragt Haase. „1,5 Kelvin.“ Das sind auch 1,5 Grad Celsius, aber Haase sagt Kelvin. Ihm ist Genauigkeit wichtig.
Die neue Fernwärmeleitung ist das Herzstück der Wärmewende in Brandenburg an der Havel. Der Bau kostete 45 Millionen Euro, fast die Hälfte steuerten das Land Brandenburg und die EU als Fördergelder bei. Bisher hatte der Betreiber des Müllheizkraftwerks die Abwärme zum Teil in die Havel abgeleitet. Dass die Energie nun genutzt wird, um Wohnungen und Häuser zu heizen, war eine Entscheidung, der sich Haase und Scheller über mehrere Jahre angenähert haben.
„Ich bin kein Grüner, aber der Klimawandel ist wissenschaftlich belegt“
Ortswechsel ins Rathaus der Stadt. Außen Backsteingotik, drinnen Büroatmosphäre. Haase und Oberbürgermeister Scheller erklären, wie es zu dem Projekt kam. Scheller betont, dass seine Stadt ein Beispiel für ein erfolgreiches Projekt der Wärmewende sein kann, nicht aber die Blaupause für alle Kommunen ist. „Man darf nicht den Eindruck haben, dass das, was bei uns vor der Vollendung steht, bei anderen angewandt werden kann“, sagt Scheller. „Man braucht Abwärme.“
Vor etwa sieben Jahren stand die Stadt vor der Frage, wie es mit dem Fernwärmenetz, das 12.000 von 35.000 Haushalten versorgt, weitergehen sollte. Die Gasturbinen im bestehenden Heizkraftwerk waren alt, die Anlage nach der Wende ohnehin überdimensioniert konstruiert worden. Zudem verabschiedete die Stadt ein Klimaschutzkonzept. Um das Pariser Klimaziel zu erreichen, sollte jeder Deutsche nur noch zwei Tonnen CO₂ pro Jahr verbrauchen. In Brandenburg an der Havel lag der Verbrauch rechnerisch bei sechs Tonnen pro Kopf. „Ich bin von der politischen Farbenlehre her kein Grüner“, sagt Scheller. „Aber der Klimawandel ist wissenschaftlich belegt und es hilft nicht, ihn zu leugnen.“
Neue Gasturbinen, dezentrale Blockheizkraftwerke oder die Abwärme eines Stahlwerks nutzen? Alle möglichen Lösungen hatten Vor- und Nachteile. Die Idee, die Abwärme eines Müllheizkraftwerks zu verwenden, das 20 Kilometer entfernt steht, hatte Haase. Er traf den Geschäftsführer der Müllverwertungsanlage auf ein Bier, sie kannten sich aus der Energiebranche. „Wir überlegten: Ich bräuchte Wärme, er hat ungenutzte Abwärme. Da müsste doch etwas gehen.“ Eigentlich sei Fernwärme für kürzere Distanzen ausgelegt, sagt Haase, doch er recherchierte. Fernwärmeleitung Mannheim–Speyer 21 Kilometer, Dürnrohr–St. Pölten in Österreich 31 Kilometer. Technisch war die Fernwärmeleitung machbar – aber auch politisch?
Die Müllverbrennungsanlage in Premnitz gehört einer Firma namens EEW – Energy from Waste. Die ehemalige E.on-Tochter betreibt 17 Anlagen in Deutschland, den Niederlanden und in Luxemburg. Über einen schwedischen Investor gelangte die Firma in den Besitz eines chinesischen Fonds. „Es gab Diskussionen in der Stadt, ob man sich in die Hände der Chinesen begeben könnte“, erinnert sich Scheller. „Das waren sehr dogmatische Diskussionen.“
Scheller plädierte für die Anbindung an die Müllverbrennungsanlage. „Ich habe mit einem deutschen Management zu tun“, sagt er. „Den Chinesen ging es vor allem um Know-how-Transfer. Wir haben nie chinesische Einflussnahme erlebt.“ Und im Fall eines Boykotts könnten die Stadtwerke die alten Gasbrenner hochfahren. Rückblickend sei es die richtige Entscheidung gewesen, nicht weiter auf russisches Gas zu setzen, sagt Scheller. „Ich will nicht sagen, dass ich damals schon schlauer war, als ich es heute bin“, sagt er. „Ich habe mich für die Fernwärmetrasse entschieden, weil ich überzeugt war, den CO₂-Ausstoß zu minimieren.“
2019 fiel die Entscheidung für die Fernwärmeleitung, mit EEW wurde ein Vertrag über 20 Jahre geschlossen. Dann passierte etwas, was in Deutschland noch immer selten ist: Das Planfeststellungsverfahren für das Großprojekt dauerte nur drei Jahre, parallel wurde bereits gebaut. Scheller und Haase sind stolz, dass ihre Leitung vom Land Brandenburg ähnlich behandelt wurde wie die Tesla-Fabrik in Grünheide. Auch das Fernwärmenetz in der Stadt wird saniert, weitere Straßenzüge werden angeschlossen – daher die vielen Baustellen.
Ganz ohne Widerstände ging es nicht. Der BUND bemängelt, dass das Müllheizkraftwerk kurz zuvor erweitert wurde. Nach Einschätzung des Umweltverbands ist es für die in Brandenburg anfallende Menge an Hausmüll zu groß. „Müllverbrennung schafft keine Anreize zur Müllvermeidung. Sie ist daher bei der Umweltbewegung unbeliebt“, sagt Axel Heinzel-Berndt, Referent beim BUND Brandenburg. Gemeinsam mit einer Bürgerinitiative ging der BUND gegen die Erweiterung vor, doch ihre Einwände wurden abgelehnt. Pläne, das Projekt über die Fernwärmeleitung zu kippen, verwarfen sie. „Es ist besser, mit Abwärme zu heizen als mit Erdgas oder Kohle“, gibt Heinzel-Berndt zu.
Statt auf Konfrontation setzen Stadtwerke und Behörden auf Einbindung des BUND und weiterer Umweltverbände – ein Modell dafür, wie sich auch andere Großprojekte in Deutschland beschleunigen ließen. Die Fernwärmeleitung führt sogar durch geschützte Feuchtgebiete mit seltenen Tier- und Pflanzenarten, die dafür zum Teil umgesiedelt wurden.
Ein weiteres Problem: Archäologen werden bei Bauarbeiten in Brandenburg an der Havel, wo bereits vor dem Mittelalter slawische Stämme siedelten, immer fündig. Die Stadtwerke finanzierten deshalb Vorgrabungen, um mögliche Bodendenkmäler zu finden. Das erhöhte die Baukosten und letztlich die Netzentgelte. „Wenn man will, dass eine Wärmewende gelingt, dann muss man sich die Frage stellen, welche Gewichtung haben diese öffentlich-rechtlichen Aspekte zueinander“, sagt Scheller diplomatisch.
„Wir können uns vor Anfragen nach Anschlüssen kaum retten“
Für die Kunden ist die Leitung dennoch finanziell ein Gewinn: Der Preis je Megawattstunde Fernwärme fiel nach Angaben der Stadtwerke wegen der Umstellung auf Abwärme zum Jahreswechsel von 140 auf 100 Euro. Auch ein CO₂-Preis wird nicht fällig. „Wir können uns vor Anfragen nach neuen Anschlüssen kaum retten“, sagt der Oberbürgermeister.
Perspektivisch können noch bis zu 5000 weitere Haushalte an das Fernwärmenetz angeschlossen werden. Wie aber heizt der Rest der Bürger in Zukunft? Darüber zerbrechen sich Scheller und Haase den Kopf. Das Wärmeplanungsgesetz schreibt vor, dass alle 11.000 Kommunen in Deutschland bis spätestens Mitte 2028 ihren Bürgern eine Wärmeplanung vorlegen müssen.
In einigen Stadtvierteln oder in Einfamilienhaussiedlungen seien neue Fernwärmeanschlüsse nicht wirtschaftlich, erklärt Scheller. Wärmepumpen schieden wiederum aus, weil die Gebäude oft alt seien. Wirkliche Alternativen zu Gas und Öl gebe es für einige Teile der Stadt bisher nicht, stellt er fest. „Für Kommunalpolitiker ist es ein Dilemma“, sagt er. „Man trifft viele Bürger, die haben die Hoffnung, dass jemand, der im Rathaus sitzt, ihnen eine Antwort geben kann. Und das muss ich ihnen schuldig bleiben. Das führt zu Frust.“
Haase merkt an, dass bei einem großflächigen Einbau von Wärmepumpen auch das Stromnetz ausgebaut werden müsste – erst recht, wenn in Zukunft nur noch E-Autos gekauft werden sollten. Große Industriebetriebe wie das örtliche Elektrostahlwerk könnten an das Wasserstoff-Kernnetz angeschlossen werden, glaubt Haase. Doch auch das war bisher nur eine vage Idee der gescheiterten Ampel-Koalition.
Scheller und Haase hoffen deshalb auf die neue Regierung. „Die Diskussion mit Experten und Vertretern der Kommunen ist bisher zu kurz gekommen“, sagt er. „Deshalb ist es richtig, dass man das Wärmeplanungsgesetz und auch das Heizungsgesetz nochmal auf die Tagesordnung nimmt und die Diskussion nachholt.“ Zumindest für einen Teil der Stadt müssen sich die beiden keine Gedanken mehr machen. Dort ist die Wärmewende bereits erfolgreich vergraben.