BAG, Urteil vom 11.12.2019 – 5 AZR 505/18Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls
I. Sachverhalt
Die Klägerin war seit dem Jahr 2006 bei der Beklagten als Arbeiterin beschäftigt. Sie war seit längerer Zeit arbeitsunfähig erkrankt. Für einen zusammenhängenden Zeitraum von rund zwei Jahren legte sie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgrund unterschiedlicher Diagnosen vor. Teilweise wurde innerhalb dieses Zeitraums zwischen den jeweiligen Bescheinigungen nur ein Wochenende oder ein einzelner Tag überbrückt.
Die Krankenkasse zahlte an die Klägerin für den gesetzlichen Zeitraum von maximal 78 Wochen Krankengeld. Nach Ablauf dieses Zeitraums beanspruchte die Klägerin von der Beklagten erneut Entgeltfortzahlung für eine sechswöchige Phase der Arbeitsunfähigkeit, gestützt auf eine neue Erkrankung. Die Beklagte verweigerte dies mit Verweis auf den „Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls“ und die bereits ausgeschöpfte Entgeltfortzahlung.
II. Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (Entgeltfortzahlungsgesetz) hat ein Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen, sofern ihn kein Verschulden trifft. Bei mehreren Erkrankungen stellt sich die Frage, ob und wann ein neuer Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt – insbesondere bei einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit mit wechselnden Diagnosen.
In der Rechtsprechung ist hierfür der „Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls“ maßgeblich.
III. Entscheidungsgründe
Das BAG wies die Klage ab. Es entschied, dass der Klägerin kein Anspruch auf weitere Entgeltfortzahlung zusteht, weil die Voraussetzungen für einen neuen Entgeltfortzahlungszeitraum nicht vorliegen. Das Gericht stellte dabei folgende Grundsätze auf bzw. bestätigte sie:
1. Einheitlicher Verhinderungsfall – Definition und Voraussetzungen
Das BAG bestätigte den bereits etablierten Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls, wonach:
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Eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit, auch bei verschiedenen Ursachen, grundsätzlich als ein einheitlicher Verhinderungsfall anzusehen ist.
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Ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung entsteht nur, wenn:
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Der Arbeitnehmer zwischen zwei Erkrankungen tatsächlich genesen war und gearbeitet hat, oder
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Die erste Arbeitsunfähigkeit beendet war, bevor die neue Erkrankung auftrat.
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Wird die Arbeitsunfähigkeit durchgehend bescheinigt, kann auch ein Wechsel der Diagnose (z. B. psychische Erkrankung – orthopädische Erkrankung – internistische Erkrankung) nicht automatisch als neuer Verhinderungsfall gewertet werden.
Maßgeblich ist also nicht die Krankheitsursache, sondern die tatsächliche Unterbrechung der Arbeitsverhinderung.
2. Beweislast
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Arbeitnehmer müssen beweisen, dass ein neuer Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt.
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Unproblematisch, wenn zwischen zwei Erkrankungen eine tatsächliche Arbeitsaufnahme liegt.
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Schwierig, wenn keine Arbeitsaufnahme erfolgte. In diesen Fällen muss der Arbeitnehmer konkret darlegen und beweisen, dass:
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Die erste Erkrankung vollständig ausgeheilt war, und
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Die neue Erkrankung zu einem neuen Arbeitsunfähigkeitszeitraum geführt hat.
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Ein bloßer Wechsel der Diagnose oder der behandelnden Ärzte reicht nicht aus.
IV. Rechtliche Folgen
1. Für Arbeitnehmer
Vorteile:
Nachteile:
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Bei nahtloser Arbeitsunfähigkeit und fehlender Gesundung wird kein neuer Entgeltfortzahlungszeitraum eröffnet – auch bei völlig anderer Erkrankung.
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Beweislast liegt beim Arbeitnehmer – ggf. schwierig zu führen.
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Im schlimmsten Fall: kein Lohnanspruch mehr, wenn Entgeltfortzahlung verbraucht und Krankengeld ausgelaufen ist.
2. Für Arbeitgeber
Vorteile:
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Arbeitgeber sind vor mehrfacher Inanspruchnahme durch „kranke“ Arbeitnehmer mit wechselnden Diagnosen geschützt, wenn tatsächlich keine Unterbrechung der Arbeitsunfähigkeit vorliegt.
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Der Grundsatz verhindert missbräuchliche „Verlängerung“ von Entgeltfortzahlungsansprüchen.
Nachteile:
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Bei Streit über die Beendigung und den Neubeginn einer Erkrankung kann die Beweiswürdigung schwierig sein, insbesondere wenn keine Arbeitsaufnahme stattgefunden hat, aber der Arbeitnehmer glaubhaft macht, zwischenzeitlich gesund gewesen zu sein.
V. Zusammenfassung und praktische Bedeutung
Das BAG stärkt mit seiner Entscheidung vom 11.12.2019 den Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls. Entscheidend für einen neuen Entgeltfortzahlungsanspruch ist nicht der Wechsel der Krankheitsursache, sondern eine tatsächliche Unterbrechung der Arbeitsunfähigkeit. Ohne diesen Nachweis bleibt es bei einem Verhinderungsfall – und damit einem sechswöchigen Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Für Arbeitnehmer bedeutet das:
Für Arbeitgeber: