In Zeiten wachsender gesellschaftlicher Spannungen ist das Schweigen über den Zustand der inneren Desintegration mehr als eine bloße Kommunikationslücke – es ist Ausdruck eines strukturellen Versagens. Die Bundesrepublik Deutschland, gegründet auf der Idee der Menschenwürde und demokratischen Teilhabe, erlebt eine schleichende Erosion des Gemeinwesens. Diese Entwicklung bleibt oft unbeachtet – oder wird aus taktischen Gründen übergangen. Doch in der Sprache der Rechtsphilosophie gilt: Was nicht ausgesprochen wird, kann auch nicht rechtlich geheilt werden.
Die rechtsethische Verantwortung des Staates für Integration
Der Staat ist nicht nur Garant für Sicherheit, sondern Träger einer aktiven Integrationsverantwortung. Diese leitet sich aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) sowie dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) ab. Integration ist keine freiwillige Gnade, sondern eine rechtsstaatliche Pflicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass „die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) auch soziale Teilhabe und kulturelle Anerkennung umfasst“ (vgl. BVerfG, Urt. v. 9. Feb. 2010 – 1 BvL 1/09, Rn. 135 – Hartz IV-Beschluss). Eine Gesellschaft, in der bestimmte Gruppen dauerhaft exkludiert oder marginalisiert werden, verletzt somit verfassungsrechtlich geschützte Teilhaberechte.
Der Mythos der Integration – Rechtsfiktionen vs. soziale Realität
Während das Aufenthaltsgesetz in § 43 Abs. 1 AufenthG die „Heranführung an die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik“ als Ziel der Integration formuliert, bleibt unklar, was unter einem „gemeinsamen Lebensverhältnis“ verstanden wird. Integration wird zur normativen Einbahnstraße, wenn sie nicht dialogisch, sondern paternalistisch gestaltet ist.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) betonte in Kurić u. a. v. Slowenien (Urt. v. 26.6.2012, Nr. 26828/06), dass Staaten strukturell diskriminierende Maßnahmen unterlassen und positive Schritte unternehmen müssen, um marginalisierten Gruppen effektive Teilhabe zu ermöglichen.
Das institutionelle Schweigen – Verfassungsrechtliche Leerstelle oder systemisches Versagen?
Verdrängung ist keine rechtlich neutrale Haltung. Wenn bestimmte soziale Missstände nicht thematisiert werden – sei es durch Gesetzgebung, Verwaltung oder Justiz –, droht eine Verletzung des Schutzpflichtengebotes des Staates. Dieses Gebot ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 GG).
Das Bundesverfassungsgericht führte hierzu aus:
„Dem Staat obliegt eine Schutzpflicht gegenüber der Gesellschaft insgesamt. Die Verfassung verlangt nicht nur Unterlassung von Eingriffen, sondern aktive Sicherung elementarer Rechtsgüter.“ (vgl. BVerfGE 88, 203 [251] – Soldaten sind Mörder).
Gerade im Bereich der Jugendhilfe, Bildung und Stadtentwicklung zeigt sich, dass strukturelle Benachteiligungen oft fortbestehen, ohne dass effektive Ausgleichsmaßnahmen ergriffen werden (vgl. BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16 – Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung in der Bildung).
Vom repressiven Staat zum dialogischen Rechtsstaat
Ein demokratischer Rechtsstaat muss Räume schaffen, in denen Vielfalt als Stärke empfunden wird. In der Tradition von Mevlana Celaleddini Rūmī lautet die spirituelle Maxime:
„Sprich mit dem anderen nicht, um ihn zu überzeugen, sondern um ihn zu verstehen.“
Diese Philosophie des Dialogs findet ihren rechtlichen Ausdruck im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), im Artikel 12 EU-Grundrechtecharta (Vereinigungsfreiheit) und in Artikel 3 Abs. 3 GG, der keine Diskriminierung wegen Herkunft, Sprache, Glauben oder Weltanschauung zulässt.
Ein Staat, der Integration als Kontrolle versteht, verkennt die Grundlage des Verfassungslebens: den freien Willen des Bürgers. Es bedarf deshalb demokratiepädagogischer Maßnahmen, kultureller Anerkennungspolitik und rechtlicher Reformen – etwa im Bereich der Partizipation von Menschen mit Migrationsbiografie (z. B. durch kommunales Wahlrecht oder erleichterte Einbürgerung gemäß § 10 StAG).
Die Einheit der Rechtsgemeinschaft – Vision oder Verfassungsauftrag?
Das Grundgesetz fordert keine Homogenität, sondern Gleichberechtigung. Die innere Einheit eines Volkes ist kein Naturzustand, sondern eine zivilisatorische Leistung, die täglich erneuert werden muss – durch Gesetz, Gericht und Gewissen.
In der Sprache der Jurisprudenz bedeutet das: Der soziale Friede ist nicht nur Schutzgut des Strafrechts (§ 130 StGB – Volksverhetzung), sondern Fundament des freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In der Sprache Mevlanas:
„Nicht das, was trennt, ist die Wahrheit, sondern das, was verbindet.“
Dr. Dr. Iranbomy