Überstunden abbummeln – aber wann?
Für viele Arbeitnehmer ist es längst gelebte Praxis: In arbeitsintensiven Phasen sammeln sich Überstunden an, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder durch Freizeit ausgeglichen werden sollen – Stichwort „abbummeln“. Doch wer entscheidet eigentlich, wann diese Stunden abgegolten werden? Können Beschäftigte das selbst bestimmen, oder darf der Arbeitgeber ihnen vorschreiben, wann sie Überstunden abbauen müssen?
Die Antwort auf diese Frage ist komplex – und hängt entscheidend vom Einzelfall ab. Klar ist: In bestimmten Konstellationen darf der Arbeitgeber sehr wohl einseitig anordnen, dass Arbeitnehmer Überstunden abbauen – mitunter sogar kurzfristig.
Überstunden: Alltag im Ausnahmezustand
Der typische Fall: Ein Projekt steht kurz vor dem Abschluss, die Deadline rückt näher, Kolleginnen und Kollegen machen Überstunden – oft ohne lange darüber zu reden. Die zusätzliche Arbeit wird später „in Freizeit abgegolten“. Doch was so selbstverständlich klingt, wirft rechtlich heikle Fragen auf.
Denn Überstunden sind kein Selbstläufer: Sie müssen arbeitsrechtlich zulässig, angeordnet oder zumindest geduldet worden sein, damit ein Anspruch auf Freizeitausgleich oder Bezahlung entsteht. Und wie mit diesen Stunden umzugehen ist – vor allem wann und wie sie wieder abgegolten werden – kann sehr unterschiedlich geregelt sein.
Wem gehört die Zeit? Das Direktionsrecht des Arbeitgebers
Nach § 106 Gewerbeordnung steht dem Arbeitgeber grundsätzlich das sogenannte Direktionsrecht zu: Er darf Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung näher bestimmen – solange keine anderen Regelungen dem entgegenstehen. Fehlen also tarifliche, betriebliche oder vertragliche Absprachen zum Thema Überstundenabbau, kann der Arbeitgeber kraft dieses Direktionsrechts einseitig anordnen, wann Beschäftigte Überstunden in Freizeit abfeiern müssen.
Beispiel aus der Praxis:
Ein Beschäftigter arbeitet am Montag zehn Stunden statt der vertraglich vorgesehenen acht. Der Arbeitgeber ordnet daraufhin an, dass der Mitarbeiter am Dienstag nur sechs Stunden arbeitet, um den Wochenarbeitszeitrahmen wieder auszugleichen. Diese Maßnahme ist zulässig, solange kein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung etwas anderes bestimmt.
Wenn Regeln bestehen: Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Arbeitsvertrag
Anders sieht es aus, wenn eine kollektivrechtliche Regelung oder eine einzelvertragliche Abmachung existiert. Viele Arbeitsverträge oder Betriebsvereinbarungen sehen vor, dass der Abbau von Überstunden im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt – etwa durch Beantragung durch den Arbeitnehmer und Genehmigung durch den Arbeitgeber.
Auch Tarifverträge enthalten oft klare Regelungen dazu, wie mit Mehrarbeit umzugehen ist. In diesen Fällen ist der Arbeitgeber an die Vorgaben gebunden – das Direktionsrecht tritt zurück.
Wichtig: Der Arbeitgeber darf auch dann keine kurzfristigen Maßnahmen treffen, wenn sie gegen das „billige Ermessen“ (§ 315 BGB) verstoßen – etwa bei kurzfristigen Anordnungen, die familiäre oder gesundheitliche Belange der Beschäftigten grob missachten.
Gleitzeit und Arbeitszeitkonten: Wer bestimmt den Takt?
In vielen Betrieben gelten flexible Arbeitszeitmodelle – etwa Gleitzeit oder Arbeitszeitkonten. Dort sieht es mit der Entscheidung über den Abbau von Überstunden oft anders aus. Hier dürfen Beschäftigte selbst entscheiden, wann sie Plusstunden abbauen, solange sie innerhalb der vereinbarten Zeitrahmen bleiben.
Doch auch in Gleitzeitbetrieben darf der Arbeitgeber unter Umständen eingreifen – etwa zur Sicherstellung der Mindestbesetzung während der Kernarbeitszeit oder in personellen Engpässen. Der Freizeitausgleich unterliegt in diesen Fällen nicht der völligen Beliebigkeit des Arbeitnehmers.
Wann darf der Arbeitgeber konkret zum Abbau zwingen?
Die entscheidende juristische Leitlinie lautet: Wenn keine anderweitige Regelung existiert, darf der Arbeitgeber einseitig anordnen, wann Überstunden abzubauen sind. Er kann dabei sogar kurzfristig handeln, etwa bei verringertem Arbeitsanfall oder organisatorischem Bedarf.
Aber: Der Betriebsrat hat hier ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BetrVG unterliegt die Lage und Verteilung der Arbeitszeit – und damit auch der Freizeitausgleich – der Mitbestimmung des Betriebsrats. Eine Anordnung ohne vorherige Beteiligung kann unwirksam sein.
Keine Überstunden ohne Rechtsgrundlage
Ein ganz anderer Aspekt ist die Frage, ob Beschäftigte überhaupt zur Ableistung von Überstunden verpflichtet sind. Auch hier gilt: Ohne klare vertragliche Grundlage – etwa im Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder durch Betriebsvereinbarung – kann der Arbeitgeber keine Überstunden verlangen.
Nur in echten Notfällen – beispielsweise bei einer existenziellen betrieblichen Gefährdung – dürfen Arbeitnehmer verpflichtet werden, über ihre normale Arbeitszeit hinaus zu arbeiten. Ansonsten gilt: Genauso wie der Arbeitgeber den Abbau nicht beliebig erzwingen darf, kann er Überstunden auch nicht beliebig anordnen.
Rechtsprechung: Keine einheitliche Linie, aber klare Tendenzen
Die Arbeitsgerichte urteilen im Bereich des Überstundenabbaus häufig einzelfallbezogen, doch gewisse Grundsätze lassen sich erkennen:
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Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 16. Mai 2012 – 5 AZR 347/11): Ohne vertragliche Regelung hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch darauf, Überstunden ausschließlich durch Freizeitausgleich abzubauen – der Arbeitgeber kann die Form des Ausgleichs bestimmen.
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Landesarbeitsgerichte (diverse Entscheidungen): Die kurzfristige Anordnung von Freizeit zum Überstundenabbau ist grundsätzlich zulässig, solange sie nicht unbillig ist oder schützenswerte Belange der Beschäftigten verletzt.
Was heißt das für die Praxis?
Für Arbeitgeber bedeutet das:
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Schaffen Sie klare und transparente Regelungen in Arbeitsverträgen oder durch Betriebsvereinbarungen.
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Beachten Sie die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats.
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Handeln Sie nach billigem Ermessen – insbesondere bei kurzfristigen Änderungen.
Für Arbeitnehmer heißt das:
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Prüfen Sie Ihre arbeitsvertraglichen Regelungen zum Thema Überstunden.
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Dokumentieren Sie Überstunden sorgfältig – auch im Rahmen eines Arbeitszeitkontos.
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Fordern Sie Klarheit und Beteiligung bei der Frage, wann Freizeit genommen werden darf oder soll.
Fazit: Kein pauschales Ja oder Nein – aber klare juristische Leitplanken
Der Abbau von Überstunden ist rechtlich nicht völlig frei gestaltbar – weder für Arbeitgeber noch für Arbeitnehmer. Während das Direktionsrecht des Arbeitgebers eine gewisse Flexibilität erlaubt, sind dessen Grenzen durch Verträge, Mitbestimmung und das Gebot des billigen Ermessens klar abgesteckt. Es empfiehlt sich für beide Seiten, das Thema Überstunden nicht nur „nebenher“ zu regeln, sondern vertraglich sauber zu gestalten.
Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine individuelle Rechtsberatung. Bei Unsicherheiten empfiehlt sich die Konsultation eines Fachanwalts für Arbeitsrecht.
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. von der kanzlei JURA.CC bearbeitet im Schwerpunkt das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsrecht. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht vertritt Mandanten außergerichtlich bei Aufhebungsverträgen und Abwicklungsverträgen bei der Kündigung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber. Soweit erforderlich erfolgt eine gerichtliche Vertretung bei der Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht mit dem Ziel für den Arbeitnehmer eine angemessene und möglichst hohe Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes, ein sehr gutes Arbeitszeugnis für zukünftige Bewerbungen oder auch die Rücknahme der Kündigung und die Weiterbeschäftigung zu erzielen.
Mehr Informationen unter www.JURA.CC oder per Telefon: 0221-95814321