Es war absehbar, dass Amazon früher oder später auf das Erfolgsmodell chinesischer Plattformen wie Temu und Shein reagieren würde. Bereits im November vergangenen Jahres stellte das Unternehmen mit Amazon Haul eine neue Shopping-App vor, die sich auf günstige Produkte unterhalb der 20-Dollar-Grenze konzentriert. Der Dienst kombiniert stark gamifizierte Elemente mit einem farbenfrohen User-Interface – zunächst allerdings ausschließlich in den USA. Dort wollte Amazon zunächst Erfahrungen sammeln, wie das Unternehmen damals erklärte.
Diese Testphase scheint nun vorbei: Mit Großbritannien startet Haul erstmals außerhalb der Vereinigten Staaten – ein Schritt, der nicht zuletzt auch durch die aktuellen Entwicklungen im globalen Handel begünstigt wird. Denn die verschärften Zollbedingungen zwischen den USA und China machen den Marktzugang für chinesische Anbieter zunehmend unattraktiv – und davon könnte Europa profitieren. Temu hat darauf bereits reagiert und die Direktlieferung aus China in die USA eingestellt. Aktuell sind dort nur noch Produkte bestellbar, die schon in US-Lagern vorrätig sind. Künftig will Temu die Abwicklung bevorzugt aus den USA heraus gestalten.
Für Amazon ist das daher jetzt ein strategisch wichtiges Zeitfenster: Während Temu sich aus dem US-Markt zurückzieht, öffnet sich mit Europa ein neuer Expansionsraum – auch für Haul. Der Dienst befindet sich in den USA zwar weiterhin in der Beta-Phase, doch der Einstieg in Großbritannien dürfte der Auftakt für einen breiteren internationalen Rollout sein. Ähnlich wie Temu oder Shein könnte Amazon damit auch auf den europäischen Märkten neue Kund:innengruppen ansprechen – jene Käufer:innen, die ihre Kabel, Zubehörteile, Haushaltsartikel und weitere niedrigpreisige Artikel bisher über andere Plattformen erworben haben.
Zusätzliche Rabatte für Neukund:innen
Laut einer Mitteilung von Amazon umfasst das britische Angebot Tausende Produkte für 20 Pfund oder weniger, viele davon unter 10 Pfund – einige sogar ab 1 Pfund. Zum Start bietet Amazon zudem Gratisversand ab 15 Pfund Einkaufswert (ca. 17 Euro) sowie 5 % Rabatt ab einem Warenwert von 50 Pfund (rund 57 Euro). Für die meist sehr preissensiblen und wechselbereiten Händler:innen aus China ist dies ein attraktives Umfeld – und für Amazon eine gute Gelegenheit, seine Marktanteile in diesem Segment auszubauen. Denn auch wenn sich der Onlineriese aus Seattle ein Stück weit selbst kannibalisiert, würde man ansonsten einen Teil des Geschäfts an andere Portale verlieren.
Empfehlungen der Redaktion
Bekannte Amazon-Elemente wie Kund:innenbewertungen, Sterne-Ratings und gesponserte Produkte sind auch bei Haul Bestandteil der Nutzererfahrung. Zusätzlich setzt die Plattform auf neue Akzente wie kuratierte Produktempfehlungen von Lifestyle-Influencer:innen auf der Startseite. Die Lieferzeit spielt im Gegensatz zu klassischen Amazon-Angeboten jedoch eine untergeordnete Rolle – ein klarer Bruch mit dem bisherigen Fokus auf Geschwindigkeit.
Amazon Haul: Wann geht’s in Deutschland los?
Es gilt als wahrscheinlich, dass Großbritannien nicht der einzige europäische Markt für Haul bleiben wird. Welche Länder als Nächstes folgen, ist noch offen – Deutschland dürfte jedoch als einer der umsatzstärksten Amazon-Märkte besonders im Fokus stehen. Die bestehende Amazon-eigene Infrastruktur sowie die hohe Preissensibilität machen den deutschen Markt zu einem spannenden Testfeld. Bereits vor einigen Wochen deuteten Stellenausschreibungen auf der Amazon-Website auf eine bevorstehende Expansion hin. Konkrete Angaben dazu macht das Unternehmen bislang nicht – laut NBC verweigert Amazon, wie gewohnt, jeden Kommentar zu Spekulationen.
Ob das in den USA beschriebene „fesselnde Einkaufserlebnis mit preiswerten Produkten an einem Ort“ auch in Deutschland überzeugt, bleibt abzuwarten. Die Erfolgsmodelle von Shein und Temu zeigen jedoch, dass der Bedarf vorhanden ist. Darüber hinaus könnte der europäische E-Commerce in den kommenden Monaten durch weitere Entwicklungen deutlich in Bewegung geraten. Neben den Auswirkungen der US-Zollpolitik für chinesische Händler:innen dürften auch Formate wie Tiktok Shop mit Social Commerce und Livestream-Shopping die Art und Weise, wie Konsument:innen online einkaufen, nachhaltig verändern.