Ein Startup in der Industrie zu gründen, ist ein Marathon mit Hürdenlaufanteil. Wer in diesem Segment etwas aufbauen will, braucht mehr als eine gute Idee. Im Vergleich zu klassischen Gründungen im Software-, Marketing- oder Dienstleistungsbereich, hängt es in der Industrie, genau genommen in der Produktion oft von äußeren Faktoren ab, während für andere Businessmodelle eher gezieltes und oft digitales Know-How gefragt ist. Ganz ohne geht es aber natürlich auch in der Fertigungsbranche nicht: Man muss Maschinen verstehen, Materialeigenschaften einordnen, Fertigungstechniken kennen. Dazu kommen regulatorische Vorgaben, lange Vertriebszyklen und Kunden, die auf Sicherheit und Verlässlichkeit achten, nicht auf schnelle Features.
Gerade in Deutschland ist die Industrie geprägt von etablierten Strukturen. Mittelständische Hidden Champions, große OEMs, langjährige Lieferketten. Der Einstieg für junge, dynamische Unternehmen ist alles andere als einfach – und dennoch notwendig. Denn die Industrie braucht frische Impulse. Laut einer McKinsey-Analyse wächst der Markt für industrielle Automatisierung bis 2025 um jährlich knapp 4?% und erreicht ein Volumen von über 115 Milliarden US-Dollar. Cloud- und IIoT-Lösungen treiben den Technologieschub, und das Bewusstsein für Automatisierung als Antwort auf Herausforderungen wie den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, Risiken in Lieferketten und ESG-Vorgaben nimmt in Vorstandsetagen deutlich zu. Doch diese Transformation kommt nicht von innen – sie braucht neue Player.
Industriegründung heißt: langsam Vertrauen aufbauen, aber schnell Lösungen liefern
Ein typischer Industrie-Startup-Kunde ist nicht der impulsive Early Adopter, sondern ein erfahrener Einkäufer, Ingenieur oder Geschäftsführer. Er erwartet belastbare Prozesse, klare Kalkulationen und technisches Verständnis. Viele Gründungen scheitern hier, weil sie mit B2C-Denkweise auf B2B-Realität treffen. Wer in der Industrie überzeugen will, braucht Geduld – und eine sehr gute Vorbereitung.
Als wir gründeten, war uns genau das bewusst. Wir wollten nicht nur eine Plattform bauen, sondern ein Fertigungsmodell, das die bestehenden Strukturen nicht nur digitalisiert, sondern neu denkt. Heute ermöglichen wir es Unternehmen, vom Prototyp bis zur Serie komplett digital und in wenigen Wochen zu fertigen – mit einem Netzwerk aus über 500 geprüften Produktionspartnern weltweit. Unsere Kunden sparen dadurch im Schnitt 85 Prozent Prozesskosten im Beschaffungsprozess, 40 Prozent günstigere Produktkosten und eine um 50 Prozent kürzere Time-To-Market.
Was viele Gründer unterschätzen: Fertigung ist kein nachgelagertes Problem
Viele Startups im industriellen Bereich legen den Fokus zunächst auf Produktentwicklung und Investorensuche – aber kaum auf die Frage, wie das Produkt überhaupt produziert werden kann. Ein fataler Fehler. Denn ohne skalierbare Fertigung bleibt jede Hardware-Innovation ein Konzept.
Drei häufige Denkfehler
Die Serienproduktion zu früh denken
Wer direkt auf 10.000 Stück plant, ohne je 10 verkauft zu haben, wird Kapital und Flexibilität verlieren. Besser: Schrittweise Skalierung mit iterativen Feedbackschleifen und Fertigern, die Kleinserien anbieten. Die Realität zeigt: Über 70 % aller Industrie-Startups ändern ihr Produkt nach Markteintritt noch einmal grundlegend. Wer da schon in einer starren Produktionsstruktur steckt, verliert Monate.
Die Fertigung als Blackbox behandeln
Viele Gründer sprechen früh mit Design-Agenturen, aber selten mit Fertigungsexperten. Dabei sind es gerade Fertigungstoleranzen, Materialverfügbarkeiten und Automatisierungspotenziale, die über Machbarkeit und Marge entscheiden. Unsere Erfahrung: Ein Gespräch mit einem guten Fertigungspartner ersetzt fünf Produktworkshops.
Sich zu stark auf einen Partner verlassen
Die Welt ist geopolitisch instabil. Abhängigkeit von einem Lieferanten – ob in Shenzhen, Turin oder Thüringen – ist ein Risiko. Diversifizierung ist nicht nur ein Schlagwort, sondern ein Muss. Deshalb ist es wichtig, mit mehreren Fertigungspartnern pro Bauteiltyp zusammenzuarbeiten – in Europa, Asien und zunehmend auch in Nordafrika.
Großes Potenzial für Innovation
Ein Blick auf die Zahlen zeigt das Potenzial: Der weltweite Markt für Auftragsfertigung liegt laut Deloitte bei über 2,4 Billionen Euro – Tendenz steigend. Doch 80 % der Fertigungsprozesse laufen heute noch weitgehend manuell, mit intransparenten Angeboten, Excel-Listen und E-Mail-Kommunikation. Das eröffnet Raum für neue Ansätze.
Plattformen wie unsere, aber auch andere Anbieter im Markt, setzen hier an: mit digitaler Angebotserstellung, KI-gestützter Lieferantenauswahl und automatisierter Produktionsplanung. Das Ziel ist nicht, die Industrie zu disrupten – sondern sie anschlussfähig zu machen für die nächsten 20 Jahre.
Worauf es ankommt: Industriefähigkeit trifft Startup-Tempo
Startups müssen lernen, mit industrieller Präzision zu denken – und die Industrie muss lernen, mit der Geschwindigkeit von Startups umzugehen. assemblean sieht sich genau an dieser Schnittstelle. Wir sprechen mit Serienfertigern und mit Gründern. Mit Chief Procurement Officers und mit Produktentwicklern im Prototypenstatus. Unser Ziel ist es, beiden Seiten ein gemeinsames Betriebssystem zu bieten.
Aus den vielen Jahren Praxiserfahrung und unzähligen Gesprächen in der Branche habe ich wertvolle Insights mitgenommen, die ich gerne mit euch teilen möchte.
5 konkrete Tipps für Industriegründer:innen
Fertigung mitdenken – ab Tag 1. Nicht erst beim Markteintritt, sondern schon beim MVP.
Auf kleine, flexible Stückzahlen setzen. Lieber fünf Mal 100 Stück als einmal 10.000.
Lieferantennetzwerke aufbauen. Mindestens zwei Optionen pro Bauteiltyp, am besten in unterschiedlichen Regionen.
Digitalisierung ernst nehmen. Excel ist kein Tool für skalierbare Produktion.
Transparenz schaffen. Wer zeigen kann, wie er produziert, schafft Vertrauen – bei Kunden und Investoren.
Die Industrie ist bereit – aber sie braucht Startups, die sie verstehen
„Made in Germany“ hat immer noch einen Wert – aber der Weg dorthin muss neu gedacht werden. Produktion darf kein Hindernis mehr sein, sondern ein strategischer Vorteil. Wer heute ein Industrie-Startup gründet, steht vor vielen Herausforderungen – aber auch vor einer riesigen Chance: die Zukunft der Fertigung aktiv mitzugestalten.
Und das – so zeigt sich immer deutlicher – funktioniert auch abseits der großen Tech-Hubs. Wir bauen unser Startup aus Paderborn heraus auf. Weil es nicht den Ort braucht, sondern die Haltung: Industrie muss schneller, flexibler und zugänglicher werden. Dann wird sie auch wieder global wettbewerbsfähig.
Über den Autor
Alexander Pöhler ist Mitgründer von assemblean, einer digitalen Produktionsplattform, die Unternehmen dabei unterstützt, innovative Produkte schneller und effizienter zur Marktreife zu bringen. Mit seiner Expertise in Fertigung, Digitalisierung und Unternehmensentwicklung treibt er die Mission von assemblean voran, die industrielle Auftragsfertigung neu zu denken und für die deutsche Wirtschaft zugänglich zu machen.
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