Amazon hat auf seiner diesjährigen Verkäufer:innenkonferenz Accelerate eine Lösung vorgestellt, die den Onlinehandel nachhaltig verändern könnte. Mit der Einführung sogenannter „agentischer KI“ (Agentic AI) entwickelt sich der Seller Assistant von einem digitalen Auskunftssystem zu einem aktiven Geschäftspartner weiter, der Verkäufer:innen nicht nur Antworten liefert, sondern auch Aufgaben übernimmt und eigenständig Strategien zu Details des Verkaufsprozesses entwirft.
Die Technologie basiert auf Amazon Bedrock und kombiniert die Modelle Amazon Nova und Anthropic Claude mit den Erfahrungen, die der Konzern in rund 25 Jahren mit Millionen von Verkäufer:innen gesammelt hat. Das alles sei „ein wichtiger Sprung nach vorn“, erklärt Mary Beth Westmoreland, Vice President Worldwide Selling Partner Experience, bei der Vorstellung. „Wir stellen hier Künstliche Intelligenz bereit, die nicht nur berät, sondern auch handelt – immer im Auftrag und unter Kontrolle der Händler:innen.“
Damit soll der Alltag für die über zwei Millionen unabhängigen Verkäufer:innen, die mehr als 60 Prozent des Umsatzes in Amazons Store generieren, erheblich erleichtert werden. Mary Beth Westmoreland, Vice President Worldwide Selling Partner Experience, sprach von einem „wichtigen Schritt hin zu einer aktiven Partnerschaft“, bei der die Händler:innen stets die volle Kontrolle behalten. Gerade bei kleineren Händler:innen ist aber zu erwarten, dass diese die Automatisierungsfunktionen bereitwillig annehmen, weil diese datenbasiert einen Mehrwert bieten können.
Von Routineaufgaben bis zur Strategieoptimierung
Künftig soll der Seller Assistant rund um die Uhr in allen Bereichen unterstützen: von der Lagerbestandsoptimierung über das Monitoring von Konto- und Servicekennzahlen bis hin zur Navigation durch komplexe Regulierungen. Besonders im Fokus steht die Automatisierung von Routineprozessen – etwa wenn die KI vorwarnen kann, dass ein Produkt bald Überbestandsgebühren verursacht, und zugleich konkrete Preisanpassungen oder Abverkäufe vorschlägt.
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Der Seller Assistant soll auf Basis von Verkaufs- und Kundendaten auch Wachstumsstrategien entwerfen – von neuen Produktvarianten über internationale Expansion bis zu maßgeschneiderten Marketingkampagnen. „Für mich ist der Seller Assistant inzwischen wie ein persönlicher Unternehmensberater“, sagt etwa Alfred Mai, Gründer des Spieleunternehmens ASM Games. Die Lösung verstehe nicht nur Zahlen, sondern auch deren Bedeutung für die Unternehmensentwicklung. Inwieweit das Amazon-Konto, das ja bei Sellern in der Regel nur ein Kanal unter vielen ist, um weitere Absatzkanäle erweitert werden kann, die dann in der Betrachtung ebenfalls berücksichtigt werden, ist nicht bekannt.
Mit der Ausweitung seiner KI-Offensive positioniert sich Amazon erwartungsgemäß als Plattform im Rennen um die Benefits, die sich durch Gen-AI-Anwendungen erzielen lassen. So wie etwa Microsoft und Google ihre Sprachmodelle in Bürosoftware und Cloud-Services integrieren, nutzt Amazon seinen Marktplatz als Spielfeld. Etwa zwei Drittel des Umsatzes im Store stammen von Händler:innen im Marketplace. Amazon plant, die KI-Funktionalitäten ohne zusätzlichen Aufpreis bereitzustellen, ähnlich wie andere Plattformen dies machen. Dabei bindet der Handelsriese aus Seattle die neue Technologie offenbar tief in den Verkäufer-Workflow ein – eine Chance und ein Risiko gleichermaßen.
Amazon schafft Commingling-Verfahren ab
Ebenfalls anlässlich der Accelerate-Konferenz wurde bekannt, dass Amazon das seit Jahren unter Händler:innen umstrittene Logistikkonzept „Commingling“ abschaffen wird. Unter Commingling versteht Amazon die Zusammenlegung identischer Produkte verschiedener Verkäufer unter einer einzigen EAN. Kund:innen erhielten so bislang in vielen Fällen schlicht das nächstgelegene Exemplar aus Amazons Lagern, unabhängig davon, welche:r Händler:in die Ware ursprünglich eingelagert hatte.
Was nach schnellerer Lieferung und effizienterer Nutzung der Lagerflächen klingt, brachte Amazon immer wieder in die negativen Schlagzeilen: Mit echten Markenprodukten konnten auch Fälschungen, beschädigte oder abgelaufene Waren in den Umlauf gelangen. Zugeschrieben wurde eine solche negative Erfahrung dann oft dem Händler oder der Marke. Einzelne Marken hatten neben Kritik auch den Verkauf über Amazon eingeschränkt, um eine Vermischung mit nicht autorisierten Produkten zu verhindern.
Ausschlaggebend für die Änderung sei ein veränderter Kosten-Nutzen-Faktor, heißt es etwas kryptisch seitens des Unternehmens. Dabei habe Amazons Logistiknetzwerk in den vergangenen Jahren erheblich an Effizienz gewonnen, sodass eine Zusammenlegung der Bestände nicht mehr notwendig sei, um schnelle Lieferungen zu garantieren. Zum anderen seien heute deutlich mehr Verkäufer auch Private Labels, die ohnehin dazu tendierten, Commingling zu vermeiden.
Agentic AI könnte Handel stark verändern
Zunächst ist der neue Seller Assistant in den USA verfügbar, eine weltweite Einführung soll in den kommenden Monaten folgen. Branchenexperten sehen in der Ankündigung einen der größten Innovationsschritte seit Einführung des Fulfillment-Programms FBA. Sollte sich die Technik in der Praxis bewähren, könnte sie den Standard im Plattformhandel neu definieren – und die Art, wie Millionen Händler weltweit ihr Geschäft führen, grundlegend verändern. Einige Beispiele und ausführlichere Beschreibungen zu seiner Agentic AI hat Amazon hier gesammelt.