Als Reaktion auf häufig problematische Kündigungsschutzprozesse und im Sinne einer nachhaltigen Personalführung hat der Gesetzgeber das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX deutlich aufgewertet. Ab dem 10. Juni 2021 dürfen Betroffene eine Vertrauensperson ihrer Wahl hinzuziehen. Dieses Recht birgt sowohl Chancen als auch Risiken – je nachdem, wie sorgfältig Arbeitgeber das Verfahren gestalten.
Rechtliche Grundlagen und Ziele
Warum BEM? Neben der Fürsorgepflicht stärkt ein strukturiertes BEM das Betriebsklima und senkt Fehlzeitenkosten. Fehlende oder fehlerhafte Verfahren führen dagegen regelmäßig zu Verfahrensfehlern, die Kündigungen im Ernstfall zum Scheitern bringen.
Erste Schritte für Arbeitgeber
Identifikation und Initiativpflicht
-
Auslöse-Tatbestand: Sechs Wochen Krankschreibung innerhalb eines Kalenderjahres (unter – oder – mehreren Phasen).
-
Frist: Das BEM-Angebot sollte unmittelbar nach Erreichen der sechs Wochen erfolgen.
Das Einladungsschreiben
Ein formvollendetes Einladungsschreiben ist das Herzstück des Verfahrens. Es muss enthalten:
-
Empfänger: Name, Anschrift, Datum
-
Zweck: Klarer Hinweis auf „Betriebliches Eingliederungsmanagement“
-
Freiwilligkeit: Deutlicher Satz, dass die Teilnahme freiwillig ist
-
Datenschutz: Umfang und Zweck der Datenerhebung gemäß DSGVO/SGB IX
-
Vertraulichkeit: Information, dass alle Daten und Gespräche vertraulich bleiben
-
Neuer Hinweis (seit 2021): Recht des Arbeitnehmers, eine Vertrauensperson seiner Wahl hinzuzuziehen (z. B. Rechtsanwalt, Betriebsarzt, Ehe- oder Lebenspartner)
-
Terminvorschlag: Mindestens zwei Optionen, Datum/Uhrzeit und Ort
Beispiel-Formulierung zum Hinzugsrecht:
„Sie haben das Recht, zu diesem Gespräch eine Person Ihres Vertrauens mitzubringen – beispielsweise Ihren Betriebsarzt, eine vertraute Begleitperson, einen Rechtsbeistand oder anderen Gesundheitsdienstleister.“
Ablauf des BEM-Verfahrens
Tipp für Arbeitgeber: Führen Sie die Gespräche in neutralem Rahmen (z. B. externe Moderation durch Betriebsarzt oder Personalrat), um Misstrauen zu vermeiden.
Rechte und Pflichten der Beschäftigten
-
Teilnahme: Freiwillig – eine Ablehnung verhindert das Verfahren, schränkt aber das BEM-recht nicht ein.
-
Hinzugsrecht: Unbegrenzter Personenkreis; die Vertrauensperson darf aktiv unterstützen und protokollieren.
-
Informationsanspruch: Einsicht in alle erhobenen Daten und Protokolle.
-
Widerspruchs- und Widerrufsrecht: Jederzeit möglich, ohne Begründung.
Praktischer Hinweis: Beschäftigte sollten vor der Teilnahme überlegen, wen sie mit Expertenwissen oder persönlicher Unterstützung begleiten kann – Kanzlei, Physiotherapeutin, Familienmitglied.
Auswirkungen auf Kündigungsschutzklagen
-
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Das BEM konkretisiert, dass vor jeder krankheitsbedingten Kündigung alle milderen Mittel geprüft werden müssen.
-
Beweislast: Im Kündigungsschutzverfahren muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass keine alternativen Einsatzmöglichkeiten vorliegen.
-
Rechtsfolge fehlerhafter Verfahren
-
Unterbleibt der Hinweis auf das Hinzugsrecht, ist das BEM-Einladungsschreiben formell unwirksam.
-
Das gesamte Verfahren kann als nicht durchgeführt gelten.
-
In der Folge wird die Kündigung in aller Regel als unverhältnismäßig und damit unwirksam angesehen.
-
Gerichtsurteil: Das BAG hat mehrfach klargestellt, dass formelle Mängel im BEM bei der Interessenabwägung zulasten des Arbeitgebers wirken (BAG, Urteil v. 14.11.2012 – 2 AZR 541/11).
Best Practices und Praxishinweise
Bereich | Empfehlung |
---|---|
Formulare | Standard-Vorlagen mit variablen Platzhaltern und Checkboxen |
Zeitmanagement | Automatisierte Erinnerungen an Personalabteilung und Führungskraft |
Dokumentation | Zentralisierte Aktenführung mit Zugriffs und Prüfprotokollen |
Schulungen | Regelmäßige Workshops für HR, Betriebsräte und Führungskräfte |
Moderation | Externe Moderation oder Mediator zur Neutralitätswahrung |
Feedback-Schleifen | Nach drei Monaten Evaluation der Maßnahme und Fortschrittsanalyse |
Checkliste für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Arbeitgeber
-
Prüfen: Enthält Ihr Einladungsschreiben das Hinzugsrecht?
-
Dokumentieren: Werden alle Gesprächsergebnisse schriftlich festgehalten?
-
Belegen: Liegen Nachweise zu alternativen Einsatzmöglichkeiten vor?
-
Schulen: Sind alle Beteiligten (Leitung, HR, Betriebsrat) informiert?
Beschäftigte
-
Entscheiden: Möchte ich eine Vertrauensperson hinzuziehen? Wenn ja, wen?
-
Mitschrift: Protokolliere ich die Gesprächsverläufe?
-
Nachfragen: Habe ich alle Schritte und Maßnahmen verstanden?
-
Rückmeldung: Melde ich mich rechtzeitig zum vorgeschlagenen Termin zurück?
Das BEM ist mehr als eine gesetzliche Pflicht: Es bietet Arbeitgebern die Chance, personengebundene Risiken kalkulierbar zu machen und gleichzeitig erkrankten Beschäftigten durch individuelle Lösungen eine Perspektive zu geben. Die Neuregelung zum Hinzugsrecht stärkt dabei die Position der Beschäftigten, erhöht jedoch den formalen Aufwand für Arbeitgeber. Nur ein lückenlos dokumentiertes, rechtssicheres Verfahren schützt vor späteren Kündigungsschutzklagen und fördert nachhaltige Wiedereingliederung.
Für weitere Fragen zur rechtskonformen Gestaltung Ihres BEM stehen wir Ihnen als Fachkanzlei für Arbeitsrecht kompetent zur Verfügung.
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. von der Kanzlei JURA.CC ist auf das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsrecht spezialisiert.
Er berät und vertritt sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber bei der Gestaltung und Verhandlung von Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen im Zusammenhang mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
Kommt es zu einer Kündigung, übernimmt er – falls erforderlich – auch die gerichtliche Vertretung im Rahmen einer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Ziel ist dabei stets eine interessengerechte Lösung: Für Arbeitnehmer kann dies etwa die Durchsetzung einer angemessenen Abfindung, ein wohlwollendes Arbeitszeugnis oder die Rücknahme der Kündigung und Weiterbeschäftigung sein; Arbeitgeber unterstützt er bei rechtssicheren Kündigungen, der Vermeidung langwieriger Prozesse und der Gestaltung von fairen Einigungen.
Mehr Informationen unter www.JURA.CC oder telefonisch unter 0221-95814321