Das Arbeitsgericht Aachen hat mit einer wegweisenden Entscheidung (Urteil vom 12.03.2024 – 2 Ga 6/24) die Rechte schwerbehinderter Beschäftigter auf eine stufenweise Wiedereingliederung gestärkt. Im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens wurde ein Arbeitgeber verpflichtet, einem langjährigen Mitarbeiter mit schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung die Rückkehr in den Arbeitsalltag zu ermöglichen – schrittweise, entsprechend einer ärztlichen Empfehlung.
Diese Entscheidung betont, dass Arbeitgeber nach § 164 Abs. 4 SGB IX aktiv mitwirken müssen, wenn schwerbehinderte Arbeitnehmer in kleinen Schritten an ihre Tätigkeit herangeführt werden sollen.
Sachverhalt: Rückkehr nach schwerer Krankheit
Der Kläger war über 35 Jahre bei dem Unternehmen beschäftigt, zuletzt in leitender Position im Vertrieb. Nach einer Hirntumorerkrankung mit anerkanntem Grad der Behinderung (GdB 90) war eine vollständige Arbeitsaufnahme zunächst nicht möglich. Eine Ärztin stellte daher einen strukturierten Wiedereingliederungsplan auf – mit einer täglichen Arbeitszeit von zunächst zwei, später vier und dann sechs Stunden über einen Zeitraum von rund drei Monaten.
Der Arbeitgeber verweigerte jedoch die Umsetzung. Zur Begründung führte er unter anderem an, dass die Tätigkeit des Klägers in diesem reduzierten Umfang keinen betrieblichen Nutzen habe, insbesondere nicht ohne Fahrtätigkeit.
Die Entscheidung des Gerichts: Mitwirkung ist Pflicht
Das Gericht stellte klar: Arbeitgeber sind nach § 164 Abs. 4 Satz 1 SGB IX verpflichtet, schwerbehinderten Beschäftigten eine geeignete Tätigkeit zu ermöglichen – und zwar auch im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung. Das Gericht betonte, dass es sich in solchen Fällen nicht mehr um ein rein freiwilliges Angebot handelt, sondern um eine gesetzlich verankerte Verpflichtung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Voraussetzung ist ein fundierter, ärztlich bescheinigter Plan – wie im vorliegenden Fall. Die Kammer sah die medizinische Prognose als nachvollziehbar und rechtlich beachtlich an.
Kernaussagen des Urteils: Was Arbeitgeber wissen müssen
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Keine generelle Verweigerung zulässig: Arbeitgeber dürfen eine stufenweise Wiedereingliederung nicht pauschal ablehnen, nur weil der Beschäftigte (noch) nicht voll leistungsfähig ist.
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Verhältnismäßigkeit entscheidend: Auch Tätigkeiten in reduziertem Umfang – beispielsweise in der Verwaltung oder im Innendienst – können angemessen und wirtschaftlich sein. Eine genaue Prüfung der Einsatzmöglichkeiten ist Pflicht.
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Berücksichtigung der Betriebskenntnis: Gerade langjährig beschäftigte Arbeitnehmer bringen viel Erfahrung mit. Das macht eine stufenweise Rückkehr häufig auch in organisatorisch schwierigen Konstellationen möglich.
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Verfügung im Eilverfahren: Das Gericht sah auch die Dringlichkeit der Sache gegeben. Wird die Wiedereingliederung verzögert, kann der gesundheitliche Fortschritt gefährdet und die Maßnahme entwertet werden.
Einordnung: Besonderheiten bei schwerbehinderten Beschäftigten
Im Unterschied zu regulären Wiedereingliederungen, die auf beidseitiger Freiwilligkeit beruhen, kann bei schwerbehinderten Arbeitnehmern ein echter Beschäftigungsanspruch bestehen. Dieser ergibt sich aus der Schutzpflicht des Arbeitgebers nach dem Sozialgesetzbuch IX.
Im konkreten Fall war der ärztliche Wiedereingliederungsplan formal korrekt und inhaltlich nachvollziehbar. Die Aufgaben, die der Kläger übernehmen sollte, waren klar benannt – ebenso wie die zu erwartende Leistungssteigerung.
Praxishinweise für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Für Arbeitgeber:
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Nehmen Sie Wiedereingliederungspläne ernst – insbesondere bei schwerbehinderten Beschäftigten.
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Lassen Sie sich beraten, wenn Zweifel an der Zumutbarkeit oder Umsetzbarkeit bestehen.
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Denken Sie an Alternativen zur bisherigen Tätigkeit – etwa Homeoffice, Büroarbeiten oder interne Projektaufgaben.
Für Arbeitnehmer:
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Achten Sie auf eine medizinisch fundierte Dokumentation und lassen Sie sich einen Wiedereingliederungsplan nach dem Hamburger Modell ausstellen.
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Bei einer unbegründeten Ablehnung durch den Arbeitgeber kann im Eilverfahren auf Beschäftigung geklagt werden.
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Schwerbehinderte Menschen haben einen erweiterten rechtlichen Schutz – dieser kann auch gerichtlich durchgesetzt werden.
Arbeitsrechtlich durchsetzbarer Teilhabeanspruch
Das Urteil des ArbG Aachen ist ein wichtiges Signal: Arbeitgeber können sich der Wiedereingliederung schwerbehinderter Mitarbeiter nicht einfach entziehen. Vielmehr besteht unter bestimmten Voraussetzungen ein einklagbarer Anspruch auf Beschäftigung – gestützt auf das Sozialrecht.
Diese Entscheidung zeigt: Die Rückkehr in den Beruf nach schwerer Krankheit darf nicht an organisatorischen Hürden oder wirtschaftlichen Argumenten scheitern – wenn eine ärztlich begleitete und realistische Perspektive besteht.
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