Viele Inhaber älterer Lebens- und Rentenversicherungen sind mit der Entwicklung ihrer Verträge unzufrieden. Geringe Rückkaufswerte und hohe Kosten führen oft zu dem Wunsch, den Vertrag vorzeitig zu beenden. Doch die Kündigung ist meist mit erheblichen finanziellen Verlusten verbunden. Was viele nicht wissen: In unzähligen Verträgen aus den Jahren 1994 bis 2007 schlummern formale Fehler, die Ihnen auch heute noch den Ausstieg per Widerspruch ermöglichen – und das zu weitaus besseren Konditionen als bei einer Kündigung. Ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11. Dezember 2024 (Az. IV ZR 191/22) hat die Rechte von Verbrauchern bei der Rückabwicklung, insbesondere bei fondsgebundenen Policen, noch einmal entscheidend gestärkt.
Der Überblick: Was ist das „ewige Widerspruchsrecht“ und wen betrifft es?
Das Gesetz schreibt vor, dass Verbraucher bei Abschluss eines Versicherungsvertrages klar und deutlich über ihr Recht zum Widerspruch (bzw. früher zum Rücktritt) belehrt werden müssen. Diese Belehrung muss dem Kunden alle notwendigen Informationen an die Hand geben, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Dazu gehört nicht nur der Hinweis auf das Recht an sich, sondern auch Informationen zur Frist und zur Form des Widerspruchs.
Zwischen 1994 und 2007 wurden Verträge häufig nach dem sogenannten „Policenmodell“ abgeschlossen. Dabei erhielt der Kunde die Vertragsunterlagen und die Belehrungen erst mit dem Versicherungsschein (der Police), also nachdem er seinen Antrag bereits gestellt hatte. Genau hier liegt die Fehlerquelle: War die Belehrung fehlerhaft, wurde die Widerspruchsfrist nie in Gang gesetzt. Die Folge ist ein potenziell „ewiges Widerspruchsrecht“.
Typische Fehler in alten Verträgen sind:
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Fehlende drucktechnische Hervorhebung: Die Widerrufsbelehrung war im Kleingedruckten versteckt und nicht deutlich vom restlichen Text abgehoben.
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Unvollständige Informationen: Oft fehlte der Hinweis, dass zur Fristwahrung die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs genügt.
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Fehlende Verbraucherinformation bei Antragstellung: Insbesondere beim sogenannten „Antragsmodell“ mussten dem Kunden schon mit dem Antrag alle wesentlichen Informationen vorliegen. Fehlte hier zum Beispiel die Angabe, wie lange der Kunde an seinen Antrag gebunden ist, konnte der Vertragsschluss nach dem Antragsmodell scheitern, was ebenfalls zu einem Fortbestehen des Widerspruchsrechts führte.
Die Konsequenz eines erfolgreichen Widerspruchs ist weitreichend: Der Vertrag wird so behandelt, als hätte er nie bestanden. Man spricht hier von einer bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung. Anders als bei einer Kündigung, bei der Sie nur den meist enttäuschenden Rückkaufswert erhalten, muss die Versicherung bei einem Widerspruch fast alles wieder herausgeben.
Ihr Anspruch bei einem wirksamen Widerspruch umfasst:
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Alle eingezahlten Prämien.
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Zuzüglich der von der Versicherung mit Ihrem Geld erwirtschafteten Zinsen und Gewinne (Nutzungen).
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Abgezogen werden lediglich die Kosten für den genossenen Versicherungsschutz (z.B. für einen Todesfallschutz, falls dieser bestand) und eventuell Steuern. Die hohen Abschluss- und Verwaltungskosten darf die Versicherung in der Regel nicht einbehalten.
Dieses Vorgehen ist für Verbraucher fast immer lukrativer als die Kündigung und kann einen finanziellen Vorteil von vielen tausend Euro bedeuten.
Die Vertiefung: Neues BGH-Urteil zu Fondsverlusten – Wer trägt das Risiko?
Besonders spannend und bisher in der Praxis oft strittig war die Frage, was bei fondsgebundenen Lebensversicherungen passiert, wenn der Wert der Fondsanteile zwischenzeitlich gefallen ist. Kann die Versicherung dann argumentieren, sie sei durch die Kursverluste nicht mehr in voller Höhe der Prämien „bereichert“ und müsse daher weniger zurückzahlen? Genau mit dieser Frage hat sich der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 11. Dezember 2024 (Az. IV ZR 191/22) befasst.
Der Fall vor dem BGH:
Ein Kunde hatte 2005 eine fondsgebundene Lebensversicherung abgeschlossen. Die Widerrufsbelehrung war, wie in vielen Fällen, fehlerhaft. Im März 2018 erklärte der Kunde den Widerspruch (formal als „Rücktritt“ bezeichnet). Zu diesem genauen Zeitpunkt war der Wert der für ihn angelegten Fondsanteile aufgrund von Kursschwankungen um über 15.000 Euro gesunken. Der Fondswert betrug nur noch 66.764,45 EUR, obwohl die Versicherung 82.532,87 EUR aus den Prämien in die Fonds eingezahlt hatte.
Die Versicherung argumentierte, sie könne wegen dieser Verluste nicht zur Rückzahlung der vollen Prämien verpflichtet sein. Sie berief sich auf den sogenannten Einwand der Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB). Dieser Paragraph schützt denjenigen, der etwas ohne Rechtsgrund erhalten hat, davor, mehr zurückgeben zu müssen, als bei ihm tatsächlich noch vorhanden ist. Die Vorinstanz, das Kammergericht Berlin, gab der Versicherung Recht und sprach dem Kunden einen deutlich geringeren Betrag zu. Es argumentierte, dass für die Berechnung der Bereicherung allein der Zeitpunkt des Widerspruchs maßgeblich sei. Spätere Wertsteigerungen der Fonds kämen dem Kunden nicht mehr zugute.
Die verbraucherfreundliche Entscheidung des BGH:
Der Bundesgerichtshof hat dieser Sichtweise eine Absage erteilt und das Urteil aufgehoben. Die Richter in Karlsruhe stellten zwei entscheidende Punkte klar, die die Rechte von Verbrauchern stärken:
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Der Anspruch auf Herausgabe von Gewinnen endet nicht mit dem Widerspruch: Der BGH betont, dass der bereicherungsrechtliche Anspruch nicht nur die Rückzahlung der Prämien, sondern auch die Herausgabe der daraus gezogenen Nutzungen (also Gewinne, Zinsen, aber auch Wertsteigerungen von Fondsanteilen) umfasst. Dieser Anspruch besteht so lange, wie der Bereicherungsschuldner – hier die Versicherung – das Geld bzw. die Fondsanteile noch besitzt und damit wirtschaftet. Es gibt keinen Grund, diesen Anspruch auf den Tag des Widerspruchs zu kappen.
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Für die „Entreicherung“ ist nicht ein einzelner Stichtag entscheidend: Das Kernargument des BGH ist, dass es für die Frage, ob eine Versicherung „entreichert“ ist, grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor Gericht ankommt und nicht auf den Tag des Widerspruchs. Der Wortlaut des Gesetzes (§ 818 Abs. 3 BGB) sei gegenwartsbezogen: Die Verpflichtung entfällt nur, „soweit“ der Schuldner „nicht mehr bereichert ist“.
Was bedeutet das konkret?
Stellen Sie sich vor, Sie widersprechen Ihrem Vertrag und der Wert Ihrer Fondsanteile ist zu diesem Zeitpunkt im Keller. Wenn sich die Kurse im Laufe des anschließenden Rechtsstreits wieder erholen, gehört dieser Wertzuwachs Ihnen! Die Versicherung kann sich nicht einfach den für sie günstigsten Zeitpunkt (den Tiefpunkt der Kurse) herauspicken und den späteren Gewinn für sich behalten. Der BGH stellt klar: Solange die Versicherung das Kapital des Kunden nicht zurückgezahlt hat, stehen dem Kunden auch die daraus entstehenden Früchte zu. Dies verhindert, dass das Risiko von Kursschwankungen nach einem Widerspruch einseitig auf den Verbraucher abgewälzt wird. Die Entscheidung sorgt für Fairness und stärkt das Grundprinzip des Widerspruchsrechts: die möglichst vollständige Rückabwicklung des Vertragsverhältnisses.
Was sollten Sie jetzt tun?
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Prüfen Sie Ihre Unterlagen: Suchen Sie Ihre Lebens- oder Rentenversicherungsverträge heraus, die zwischen 1994 und 2007 abgeschlossen wurden.
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Suchen Sie nach Fehlern: Schauen Sie sich die Widerrufs- oder Rücktrittsbelehrung genau an. Ist sie deutlich hervorgehoben? Ist von der „rechtzeitigen Absendung“ die Rede? Fehlten bei Antragsstellung wichtige Verbraucherinformationen?
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Lassen Sie sich professionell beraten: Die juristische Bewertung, ob eine Belehrung im Einzelfall fehlerhaft ist, ist für Laien kaum sicher möglich. Die Rechtsprechung ist sehr kasuistisch, und Versicherungen wehren unberechtigte Ansprüche konsequent ab. Bevor Sie handeln, sollten Sie Ihre Verträge unbedingt von einem spezialisierten Anwalt prüfen lassen. Dieser kann Ihre Erfolgsaussichten einschätzen, den Widerspruch rechtssicher formulieren und Ihre Ansprüche präzise beziffern und durchsetzen.
Das neue Urteil des BGH zeigt einmal mehr, dass der Widerspruch ein mächtiges Instrument für Verbraucher ist. Es kann Ihnen den Weg aus einem unrentablen Vertrag ebnen und Ihnen zu deutlich mehr Geld verhelfen, als Sie bei einer einfachen Kündigung erhalten würden.
Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der allgemeinen Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Er kann eine anwaltliche Beratung im Einzelfall nicht ersetzen.
Wenn Sie vermuten, dass auch Ihr Versicherungsvertrag fehlerhaft sein könnte, oder Unterstützung bei der Rückabwicklung benötigen, ist eine fachkundige Prüfung unerlässlich. Gerne stehe ich Ihnen mit Rat und Tat im Verbund mit einer u.a. auf Versicherungsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei zur Verfügung.