Bundesbankpräsident Nagel schockiert vor großem Publikum mit einer drastischen Wortwahl, die Erinnerungen an die große Finanzkrise weckt. Die USA müssen nun entscheiden: Ignorieren sie seinen Alarm, fühlen sie sich provoziert oder nehmen sie die Kritik als Chance für eine Kurskorrektur?
Diplomatisches Verhalten definiert sich nicht nur aus dem, was man sagt, sondern auch wann, wo und vor welchem Publikum. Umso erstaunlicher ist es, wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel auf einer Pressekonferenz mit Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) die US-Regierung auf offener Bühne kritisierte: Wegen der US-Politik sei es Anfang April zu erheblichen Turbulenzen an den Finanzmärkten gekommen, man habe erlebt, was es bedeuten könne, „wenn es möglicherweise Zweifel gibt am Reserve-Status der US-Staatspapiere“, sagte Nagel auf Nachfrage beim Finanzministertreffen der G-7-Staaten im kanadischen Banff.
Anfang April hatte US-Präsident Donald Trump Strafzölle für nahezu alle Einfuhren in die USA verkündet. „Manchmal hatte ich an bestimmten Tagen doch das Gefühl, wir sind nicht weit weg von der Kernschmelze an den Finanzmärkten“, ergänzte Nagel rückblickend auf die Situation vor wenigen Wochen.
Kernschmelze. Aus dem Mund eines Notenbankpräsidenten ist das ein gewaltiges Wort. Das letzte Mal hat nicht nur die Finanzwelt in den Jahren 2008 und 2009 vor einer Kernschmelze gestanden, als die US-Investmentbank Lehman in die Knie ging. In der Folge kam es ausgehend von den Vereinigten Staaten zu einer globalen Finanzkrise. Viele Staaten, auch Deutschland und die USA, mussten ihre Banken und Finanzdienstleister mit hohen Milliardenbeträgen lange stützten. Sparer fürchteten um ihr Geld. Die Commerzbank ist deshalb bis heute zumindest teilweise im deutschen Staatsbesitz.
Nagel dürfte seine Äußerungen angesichts dieser Historie nicht unbedacht gemacht haben, denn auch auf weitere Nachfragen blieb Deutschlands oberster Notenbanker bei seiner Position: „Wenn man sich die Situation anschaut, die wir in der ersten Aprilwoche hatten, die Volatilität bei den US-Treasuries, wenn man das in so eine Art Normalverteilung packen würde und da ein paar Standardabweichungen drumlegen würde, dann wäre man tatsächlich in Bereichen, wo die Wahrscheinlichkeit sehr hoch wäre, wenn man die historischen Daten nimmt, dass so was passieren kann“, rechtfertigte Nagel seine Aussage. „Deswegen, glaube ich, kann man schon so einen Begriff wie Kernschmelze verwenden, wenn sich dieser Prozess fortgesetzt hätte. War ja zum Glück nicht der Fall.“
Anfang April versetzte Trump mit seiner immer rigideren Zollpolitik nicht nur die Aktienmärkte in Aufregung. US-Aktienindizes verbuchten teilweise Rekordeinbrüche. Auch der für die Regierung so wichtige Bondmarkt wackelte. Trumps Politik drohte, das Vertrauen in die US-Stabilität zu untergraben und Amerikas Status als sicherer Hafen zu ruinieren. Die Sorgen vor einem Einbruch der Konjunktur nahmen rapide zu, bis die US-Regierung einen Teil der Zölle vorübergehend aussetzte.
Die Finanz- und Wirtschaftswelt hat nach Nagels Einschätzung damals wieder einmal in den Abgrund geschaut, um dann im letzten Moment zunächst mal einen kleinen Schritt davon zurückzutreten. Der Bundesbankpräsident glaubt, dass die Botschaft im April so stark gewesen sei, „dass das jetzt endlich bei allen Beteiligten angekommen ist“. Was wohl heißen soll: Die Amerikaner hätten eingesehen, dass sie sich mit ihrer harschen Zoll- und Handelspolitik vor allem auch selbst schaden und deshalb zu Kompromissen mit den Partnern bereit seien.
Der Bundesfinanzminister, der bis dahin zurückhaltend mit öffentlichen Äußerungen zu den Finanzmarktturbulenzen war, ergänzte: „Die Stabilisierung ist in der Tat da.“ Aber wenn es nicht zu einer Einigung bei den Zollstreitigkeiten komme, dann könne man sehr schnell wieder Turbulenzen an den Märkten erwarten. „Das hat für beide Seiten dann eine sehr weitreichende Konsequenz und ich habe auch den Eindruck, dass die amerikanische Seite das verstanden hat, das sieht und daraus auf die richtigen Konsequenzen zieht.“
Es ist eine heikle Situation in den Gesprächen zwischen der EU und den Amerikanern über die künftigen Zölle im gemeinsamen Handel. US-Präsident Donald Trump gilt als erratisch. Auf keinen Fall wollte man daher in Banff den Eindruck erwecken, sechs der sieben G-7-Finanzminister versuchten, Scott Bessent, den US-Kollegen, gemeinsam in eine Ecke zu treiben. Klingbeil redete immer wieder von der „ausgestreckten Hand Deutschlands“, davon, wie wichtig es sei, sich zu einigen. Und dass er nicht das Gefühl habe, Bessent wolle diese Hand nicht annehmen.
Anders als Nagel versuchte Klingbeil aber, Schuldzuweisungen zu vermeiden: „Wir haben immer diskutiert, wie wir jetzt gemeinsam Schritte gehen können, um auch zur Lösung zu kommen“, erzählte er in Banff. „Und es ist jetzt nicht so, dass man versucht hat, die Vergangenheit aufzuarbeiten.“ Es müsse jetzt darum gehen, schnell die Unsicherheiten im internationalen Handel aufzulösen. Sein Eindruck sei, Bessent teile diesen Wunsch auch.
„Jetzt ist der Ball bei der EU-Kommission, die gemeinsam mit der US-Seite verhandelt“, sagte Klingbeil weiter. In den vergangenen Tagen war wiederholt zu hören, dass sich beide Seiten –EU und USA – in den Verhandlungen allmählich einander annäherten.
Die große Frage ist: Wie kommen Nagels Kernschmelze-Aussagen in dieser Situation in der US-Regierung an? Werden sie einfach übergangen? Fühlt sich die US-Regierung davon provoziert, selbst wenn sie die Einschätzung teilen sollte? Oder ist sie angesichts der Entwicklung im April so aufgeschreckt, dass sie Nagels Einordnung als freundschaftliche Lehrstunde betrachtet? Die nächsten Wochen werden es zeigen.
Jan Dams ist Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen von WELT und WELT am Sonntag.