Außerordentliche fristlose Verdachtskündigung eines Betriebsratsmitglieds wegen mutmaßlichen Drogenkonsums während der Arbeitszeit in Betriebsräumen LAG Hannover, Urteil vom 06.05.2024, Az. 4 Sa 446/23
Im vorliegenden Fall stritten die Parteien über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Verdachtskündigung gegenüber einem langjährigen Mitarbeiter, der zugleich freigestelltes Mitglied des Betriebsrats war. Dem Kläger wurde zur Last gelegt, während der Arbeitszeit in den Räumlichkeiten des Betriebsrats mutmaßlich Drogen konsumiert zu haben.
Der Kläger war seit über 20 Jahren bei der Beklagten tätig und seit 2018 als freigestelltes Betriebsratsmitglied beschäftigt. Im Unternehmen gilt eine Gesamtbetriebsvereinbarung „Sucht“ (GBV Sucht), welche den Konsum von Suchtmitteln während der Arbeitszeit – einschließlich der Pausen – ausdrücklich untersagt. Die Vereinbarung sieht zudem eine sogenannte Interventionskette vor, bei der Verstöße stufenweise durch Gespräche und Maßnahmen bearbeitet werden. Gleichzeitig behielt sich die Arbeitgeberin arbeitsrechtliche Konsequenzen bei schwerwiegenden Verstößen vor.
Ein anderes Betriebsratsmitglied beobachtete den Kläger dabei, wie dieser an seinem Schreibtisch im Büro des Betriebsrats ein weißes Pulver mithilfe einer Karte zu einer Linie formte und anschließend durch ein Röhrchen durch die Nase konsumierte. Auf direkte Ansprache erklärte der Kläger lediglich, dass es sich bei der Substanz nicht um Drogen gehandelt habe. Der Vorfall wurde daraufhin der Betriebsleitung gemeldet. In einer Anhörung äußerte sich der Kläger dahingehend, dass es sich um Schnupftabak gehandelt habe, den er unter dem Markennamen „Schneeberg“ aufbewahre – eine kleine Flasche mit zitronenartigem Geruch wurde vorgelegt.
Die Betriebsleitung bot dem Kläger an, auf Kosten der Arbeitgeberin einen Drogentest durchzuführen. Der Kläger zeigte sich zunächst zögerlich und verwies darauf, nicht zu wissen, wo ein solcher Test durchgeführt werden könne, und dass dieser vermutlich teuer sei. Zwei Tage später erklärte die Arbeitgeberin schriftlich, sie werde sämtliche Kosten übernehmen. Eine Reaktion des Klägers auf dieses Angebot blieb aus.
Daraufhin sprach die Arbeitgeberin – nach Zustimmung des Betriebsrats – die außerordentliche fristlose Kündigung aus.
Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. Er bestritt einen Drogenkonsum und betonte, dass auch Schnupftabak mittels Röhrchen konsumiert werden könne. Eine Verpflichtung zur Durchführung eines Drogentests habe für ihn nicht bestanden. Zudem sei das in der GBV Sucht vorgesehene Eskalationsverfahren nicht eingehalten worden.
Die Arbeitgeberin hielt die Voraussetzungen einer Tatkündigung wegen Konsums harter Drogen für erfüllt, jedenfalls aber diejenigen einer Verdachtskündigung. Der Konsumvorgang spreche deutlich für Kokain, welches typischerweise durch ein Röhrchen konsumiert werde – im Gegensatz zu Schnupftabak, der auf andere Weise appliziert werde. Außerdem gefährde der Kläger durch den Konsum nicht nur sich selbst, sondern auch andere Beschäftigte. Seine Weigerung, den Drogentest durchzuführen, verstärke den Verdacht.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab; die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Das Landesarbeitsgericht Hannover sah zwar keinen hinreichend bewiesenen Tatvorwurf, bejahte jedoch die Voraussetzungen einer außerordentlichen Verdachtskündigung.
Voraussetzungen einer wirksamen Verdachtskündigung:
Eine Verdachtskündigung ist arbeitsrechtlich zulässig, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind:
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Dringender Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung:
Es muss ein auf konkrete, objektive Tatsachen gestützter schwerwiegender Verdacht bestehen, dass der Arbeitnehmer eine erhebliche Vertragspflichtverletzung begangen hat. -
Erschütterung des Vertrauensverhältnisses:
Der Verdacht muss so gravierend sein, dass das für das Arbeitsverhältnis notwendige Vertrauen zerstört oder schwer beschädigt ist. -
Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen:
Der verdächtigte Vorfall muss von solcher Bedeutung sein, dass dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht zumutbar ist – auch nicht bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. -
Umfassende Aufklärungspflicht des Arbeitgebers („ultima ratio“):
Der Arbeitgeber muss alle zumutbaren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts ergreifen. Dazu gehört insbesondere die Anhörung des Arbeitnehmers zu dem gegen ihn bestehenden Verdacht. -
Keine mildere Maßnahme:
Es darf kein milderes Mittel als die Kündigung zur Verfügung stehen, das dem Arbeitgeber zuzumuten wäre (z. B. Abmahnung oder Versetzung). -
Interessenabwägung:
Im Rahmen der gebotenen Abwägung sind insbesondere Dauer der Betriebszugehörigkeit, das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers, die Schwere des Verdachts und dessen Auswirkungen zu berücksichtigen.
Im zugrundeliegenden Fall sah das Landesarbeitsgericht diese Voraussetzungen als erfüllt an. Der Kläger sei aufgrund der Beobachtung beim Konsum eines weißen Pulvers durch ein Röhrchen dringend verdächtig, Kokain konsumiert zu haben. Die Einlassungen des Klägers seien nicht geeignet gewesen, den Verdacht zu entkräften. Insbesondere habe das Gericht die Weigerung des Klägers, eine freiwillige Haaranalyse trotz Kostenübernahme durch den Arbeitgeber durchführen zu lassen, als erheblich belastendes Indiz gewertet. Es wäre dem Kläger ohne nennenswerten Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit möglich gewesen, sich zu entlasten.
Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass durch den Vorfall das Vertrauensverhältnis nachhaltig erschüttert worden sei, sodass eine außerordentliche fristlose Verdachtskündigung gemäß § 626 BGB gerechtfertigt war.
Fazit:
Auch Betriebsratsmitglieder genießen keinen absoluten Kündigungsschutz. Bei schwerwiegenden Pflichtverstößen – wie dem dringenden Verdacht eines Drogenkonsums während der Arbeitszeit – kann unter den dargestellten Voraussetzungen eine wirksame außerordentliche Verdachtskündigung erfolgen. Zwar existieren in der arbeitsgerichtlichen Praxis divergierende Entscheidungen, insbesondere im Rahmen der Interessenabwägung. Dennoch zeigt der Fall, dass der Schutz des Betriebsratsmandats dort endet, wo das Vertrauen in die Integrität und Zuverlässigkeit des Mandatsträgers objektiv zerstört ist.