Ein Strafgericht darf sich nicht mit einer unvollständigen Sichtweise begnügen – es ist gesetzlich verpflichtet, den wahren Sachverhalt so vollständig wie möglich zu ermitteln. Diese Pflicht nennt man die „materielle Aufklärungspflicht“ (§ 244 Abs. 2 StPO).
⚖️ Was bedeutet Aufklärungspflicht konkret?
Das Gericht muss nicht nur das hören, was ihm präsentiert wird, sondern von sich aus prüfen:
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Gibt es Hinweise auf entlastende Beweise oder Zeugen?
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Wurde ein Sachverhalt vielleicht nicht vollständig erforscht?
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Wird ein Angeklagter womöglich zu Unrecht verdächtigt?
➡️ Es geht darum, die Wahrheit herauszufinden – nicht nur zu verurteilen.
📌 Wann ist die Aufklärungspflicht besonders wichtig?
Typische Beispiele aus der Praxis:
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Das Gericht lehnt einen wichtigen entlastenden Zeugen ohne nachvollziehbaren Grund ab.
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Eine Videoaufnahme oder Chatnachricht, die den Angeklagten entlastet, wird nicht berĂĽcksichtigt.
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Es wird kein Gutachten eingeholt, obwohl die Schuldfähigkeit infrage steht.
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Widersprüche im Verfahren (z. B. zwischen Zeugenaussagen) werden nicht aufgelöst.
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Bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen wird nicht geprüft, ob die belastende Aussage wirklich tragfähig ist.
🚨 Was passiert bei einem Verstoß gegen die Aufklärungspflicht?
Wenn ein Gericht seiner Aufklärungspflicht nicht nachkommt, ist das ein Verfahrensfehler – und kann im Rahmen einer Revision angegriffen werden (§ 337 StPO).
➡️ Das Urteil kann in solchen Fällen aufgehoben und zur Neuverhandlung zurückverwiesen werden.
🧑‍⚖️ Welche Rolle spielt die Verteidigung dabei?
Die Verteidigung ist dafür zuständig, das Gericht aktiv auf Versäumnisse hinzuweisen:
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Beweisanträge stellen (z. B. auf Vernehmung von Zeugen, Einholung von Gutachten)
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WidersprĂĽche im Verfahren offenlegen
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Im Zweifel: rĂĽgen, dass das Gericht nicht alles ermittelt hat
Tipp: Ein ablehnender Beschluss zu einem Beweisantrag sollte immer genau geprüft werden – nicht selten ist er rechtsfehlerhaft.
đź“… Wichtig fĂĽr die Revision: Dokumentation in der Hauptverhandlung
Für eine erfolgreiche Revision ist entscheidend, dass das Versäumnis des Gerichts im Protokoll oder in einem abgelehnten Beweisantrag klar dokumentiert ist. Deshalb gilt:
Tipp: Wenn das Gericht Beweise übergeht – sofort einen formellen Antrag stellen und dokumentieren lassen!
âś… Fazit fĂĽr Mandanten
Situation | Muss das Gericht aktiv werden? |
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Wichtiger Zeuge wird nicht von selbst geladen | ✅ Ja, wenn er entlasten könnte |
Hinweise auf Schuldausschluss bleiben ungeprĂĽft | âś… Ja |
Angeklagter schweigt – keine Pflicht zur Aufklärung? | ❌ Doch, Aufklärung gilt immer |
Nur belastende Aussagen berücksichtigt | ❌ Fehler – Gericht muss ausgleichen |