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Es geht um Hunderte Millionen Euro, die über Konten bei der Wirecard-Bank geflossen sind. BR-Recherchen zeigen jetzt: Ein Großteil der Gelder gehört Calvin Ayre, der auf Antigua lebt und mit Online-Glücksspiel zum Milliardär wurde.
Es ist der größte Finanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik: Im Juni 2020 bricht der Zahlungsdienstleister Wirecard zusammen, weil 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar sind. Anleger verlieren mehr als 20 Milliarden Euro. Seit drei Jahren müssen sich deshalb Ex-Wirecard-Vorstandschef Markus Braun und zwei frühere Manager des Zahlungsdienstleisters vor dem Landgericht München verantworten. Sie sind unter anderem wegen bandenmäßigen Betrugs angeklagt.
Nach 230 Verhandlungstagen ist inzwischen unstrittig: Die 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Singapur und später auf den Philippinen aus dem Geschäft mit so genannten Drittpartnern haben nie existiert. „Das können wir mittlerweile alle nicht abstreiten, das ist offensichtlich“, räumt Theres Kraußlach ein, die Verteidigerin von Braun.
Was aber ist mit den Hunderten Millionen Euro, die über Konten der ausländischen Drittpartner bei der Wirecard-Bank geflossen sind? Diese Drittpartner sollten vor allem in Asien Zahlungen abwickeln. 2022 hat der BR eine erste Recherche dazu veröffentlicht. In Summe sollen auf den Konten dieser Firmen rund zwei Milliarden Euro eingegangen sein, wie die Anwälte von Braun errechnet haben. Er behauptet: Diese Gelder gehörten Wirecard. Aber eine Bande um den flüchtigen Wirecard-Manager Jan Marsalek habe das Geld veruntreut.
Geld aus illegalem Glücksspiel?
Seit Jahren verfolgen Reporter von BR Rercherche die Spur des Geldes. 2022 fanden sie E-Mails von Marsalek mit Excel-Listen sämtlicher Überweisungen bei der Wirecard-Bank aus dem Jahr 2018 – etwa 500.000 Transaktionen. Eine Analyse dieser Daten zeigt, dass Briefkastenfirmen in Prag, Podgorica in Montenegro und anderswo in der Welt hohe Millionenbeträge an die angeblichen Wirecard-Drittpartnerfirmen überwiesen haben. Wirecard sei ein „Sammelpunkt für diese Gelder, etwa aus illegalem Glücksspiel, gewesen“, erklärt ein Insider diese Überweisungen. Er will anonym bleiben.
Die Reporter sahen in den vergangenen Jahren weitere Kontounterlagen und Dokumente ein, sprachen mit zahlreichen Konzern-Kennern und tauschten sich mit Expertinnen und Experten im In- und Ausland aus. So können sie nachvollziehen, wem große Teile der Gelder auf den Konten bei der Wirecard-Bank gehören: Calvin Ayre, ein schillernder Glücksspiel-Unternehmer und Bitcoin-Investor aus Kanada, der seit vielen Jahren auf Antigua lebt. Allerdings sind die Verbindungen zu ihm nicht offensichtlich. Denn die Ein- und Auszahlungen bei der Wirecard-Bank liefen über komplexe Firmenstrukturen und meist mehrere Länder.
Calvin Ayre dealte mit US-Justiz
Mit Online-Glücksspiel brachte es Ayre, Sohn eines kanadischen Schweinefarmers, zum Milliardär. In einem ARD-Film posiert Ayre 2007 an der Reling einer Yacht stehend, mit mehreren Frauen in knappen Bikinis im Arm. Mit einer Harley fährt er durch das Wohnzimmer seiner Luxus-Villa in Costa Rica. Ayre ist da gerade dabei, sein Business nach Antigua zu verlegen. Aus seinen Kontakten zu politischen Entscheidungsträgern auf der Karibikinsel macht der Glücksspiel-Milliardär damals keinen Hehl: „Ich bin dort bereits der größte private Arbeitgeber, das bedeutet eine Menge politischen Einfluss.“
Anderswo ist sein Einfluss deutlich geringer: 2012 klagen US-Behörden Ayre und drei Mitarbeiter wegen illegalen Glückspiels und Geldwäsche an und ziehen 66 Millionen US-Dollar Spieleinsätze von Konten seiner Gambling-Plattform Bodog ein.
Zeitweise steht Ayre in den USA auf der „Most Wanted List“ der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE. 2017 macht er einen Deal mit der Justiz: Er räumte einen Vorwurf ein und zahlt eine Geldstrafe in Höhe von 500.000 US-Dollar. Die 66 Millionen US-Dollar bleiben eingezogen.
Millionen fließen über Aschheim nach Antigua
Die Kontodaten der Wirecard-Bank zeigen: Alleine rund 135 Millionen Euro fließen über Konten, die angebliche Drittpartner bei der Wirecard-Bank hatten, nach Antigua. Empfänger sind neun Firmen, die meisten haben ihren Sitz im sogenannten „Fitzgerald House“ in der 44 Church Street in St. Johns. Im Unternehmensregister von Antigua sind lediglich zwei dieser Firmen registriert – und das erst seit 2020.
Im Fitzgerald House residiert die Anwalts- und Notarkanzlei „Cort&Cort“. Dahinter steht Errol Cort, Antiguas früherer Finanzminister und nach Ayres eigenen Worten sein „Anwalt und bester Freund“. So steht es in einer E-Mail, die Ayre verschickt hat – an Christen Ager-Hanssen. Der Unternehmer und Investor aus Norwegen hat fast ein Jahr lang für Ayre an zentraler Stelle gearbeitet. Im Interview mit Report München äußert er sich erstmals zu den Verbindungen zwischen Ayre und Wirecard.
Der Insider bestätigt, die Firmen in der 44 Church Street auf Antigua seien dem Glücksspiel-Mogul Ayre zuzurechnen: „Sein Problem war, dass er über viel Geld verfügt, einen enormen Cashflow hat, diesen aber weiterleiten muss, ohne dass er jemals in seinem eigenen Namen auftritt. Dies geschieht über verschiedene Strukturen. In einer dieser Strukturen ist der ehemalige Finanzminister von Antigua, Errol Cort, involviert.“
Ayre habe Wirecard gebraucht wie auch Wirecard ihn gebraucht habe, so Christen Ager-Hanssen. Ohne den Zahlungsdienstleister wäre das Business des Glücksspiel-Moguls seiner Einschätzung nach nicht möglich gewesen.
Calvin Ayre, Bitcoin und Blockchain
Ende 2022 tritt Christen Ager-Hannsen seinen Job als CEO des Technologie-Unternehmens nChain an: „Ich wurde vom Eigentümer Ayre als Group-CEO bei nChain eingestellt, das damals als eines der innovativsten Unternehmen der Welt galt.“ Im August 2023 investiert Ayre angeblich 570 Millionen US-Dollar in die Firma. Wenig später wirft Ager-Hanssen seinen Job hin, weil er den „größten Betrug der Geschichte“ aufgedeckt habe, wie er heute sagt.
In einem Whistleblower-Report („Fairway Brief“) beschrieb Ager-Hanssen eine Verschwörung unter dem Dach von nChain: Demnach habe Ayre den australischen Computerexperten Craig Wright, damals Chefwissenschaftler von nChain, massiv dabei unterstützt, sich in der Öffentlichkeit als Satoshi Nakamoto auszugeben.
Tatsächlich behauptet Craig Wright seit 2016 öffentlich, er sei Satoshi Nakamoto, der Erfinder der Digitalwährung Bitcoin sowie der Blockchain-Technologie. Satoshi Nakomoto, dem 1,1 Millionen Bitcoins im Wert von derzeit mehr als 81 Milliarden Euro gehören, ist seit etwa 15 Jahren spurlos verschwunden.
Der Plan von Ayre und Wright sei gewesen, so Ager-Hanssen, eine eigene Bitcoin-Version durchzusetzen und Lizenzzahlungen von anderen Bitcoin-Währungen einzutreiben. Das hätte Ayre und den australischen IT-Spezialisten Wright wohl zu den reichsten Menschen der Welt gemacht. Allerdings stellte ein Londoner Gericht im vergangenen Jahr eindeutig fest, dass Wrights Erzählung frei erfunden war.
Ayre – Der „Mann hinter Wirecard“
Den Kontounterlagen zufolge sind hohe Summen nicht nur nach Antigua geflossen, wo Ayre bis heute lebt. In den Überweisungsdaten finden sich auch Firmen, die unmittelbar mit dem Online-Glücksspielgeschäften von Ayre in Verbindung stehen. So flossen 6,6 Millionen Euro zu einer Software-Firma aus Spanien namens RGT. Auch erhielt eine Tyche Consulting aus Manila schon 2014 fast acht Millionen Euro. Später arbeitete Wright, der Mann, der vorgab, der Bitcoin-Erfinder zu sein, zeitweilig bei der Schwesterfirma Tyche Consulting in London.
Hunderte Millionen Euro flossen von der Wirecard-Bank aus auch nach Hongkong, vor allem zur Firma Pittodrie Finance Limited. Nach Berechnungen des BR auf Basis der vorliegenden Belege sind es über 177 Millionen Euro. Auch dieses Geld gehört nach BR-Recherchen Ayre und stammt nicht, wie Ex-Wirecard-Vorstandschef Braun es darstellt, aus dem Wirecard-Drittpartner-Geschäft.
Die Pittodrie Finance Limited ist ein Investment-Vehikel der Monterosa Group aus Zürich, die das Vermögen angelegt hat. Die Spur der Überweisungen führt zum Züricher Vermögensverwalter Fairway Family Office. Von dort aus agiert nach Worten von Ager-Hanssen der „Mastermind“ hinter Ayres Finanzgeschäften. Auf Anfrage zu den Hintergründen des Geldflusses erklärt die Firma: Dass Banken Zahlungen abwickeln, sei „Teil ihrer üblichen Geschäftstätigkeit“. Zu konkreten Fragen will die Firma nicht Stellung nehmen.
„Calvin war dafür bekannt, eines der größten Gambling-Unternehmen der Geschichte aufgebaut zu haben. Und durch dieses System floss eine Menge Geld. Das begann über Wirecard zu laufen. Er war der Mann hinter Wirecard“, beschreibt Ager-Hanssen dessen Rolle. Auch an Ayre selbst gehen Überweisungen. In den Kontounterlagen ist vermerkt, dass an einen „Calvin Wilson“ mit Wohnsitz auf den Philippinen mehrfach Geld transferiert worden ist. Nach BR-Recherchen hat Ayre diesen Namen als Alias verwendet.
Ein Brief von Marsalek
Ein Hinweis auf diese Finanzstruktur kommt ausgerechnet von Jan Marsalek: Im Juli 2023, gut ein halbes Jahr nach Beginn des Prozesses, wendet sich der flüchtige Wirecard-Manager über seinen Anwalt in einem achtseitigen Brief an das Landgericht München.
Darin steht unter anderem, im Hintergrund des angeblichen Drittpartnergeschäfts habe „de facto ein einziger Kunde“ gestanden, und er – Marsalek – habe „mit einem kanadischen Kunden dessen gesellschaftsrechtliche Strukturen“ restrukturiert. Zu diesem Sachverhalt äußerte sich Marsaleks Anwalt auf Anfrage des BR nicht.
Wirecard und das angebliche Drittpartnergeschäft
Wirecard hat so Ayre ermöglicht, Zahlungen über angebliche Drittpartnerkonten zu schleusen. Hat auch Wirecard von diesen Geldflüssen profitiert? Tatsächlich dienten Überweisungen auf Konten von Drittpartnern bei der Wirecard-Bank den Wirtschaftsprüfern von EY als Beleg für ein existierendes Wirecard-Drittpartnergeschäft. Der Skandalkonzern konnte so kaschieren, dass diese Geschäfte frei erfunden waren.
So ist in dem geheimen „Wambach-Bericht“ für den Wirecard-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag vermerkt, die Wirtschaftsprüfer hätten Kontoauszüge der Wirecard-Bank eingeholt – als Nachweis „über Zahlungseingänge bei Wirecard, die dem TPA-Geschäft zugeordnet werden“. EY teilt dem BR auf Anfrage mit, die Prüfer hätten „auch im beschriebenen Kontext nach den geltenden berufsrechtlichen Standards geprüft“.
Die Staatsanwaltschaft München I macht „aufgrund des laufenden Prozesses keine weiteren Angaben“ zu dem Themenkomplex. Braun-Anwältin Kraußlach betont im Interview mit dem BR, ihr Mandat habe von diesen Vorgängen nichts gewusst und: „Er ist selbst im Grunde Opfer einer Straftat geworden.“
Keine Drehgenehmigung für Antigua
Antiguas Ex-Finanzminister Cort und Ayre ignorieren die Anfragen, die ihnen der BR an mehrere E-Mail-Adressen schickt. Ayre reagiert auch auf mehrere Anrufe und SMS-Nachrichten nicht.
Eine Drehgenehmigung für Antigua bekommt Report München ebenfalls nicht. Der dafür zuständige „Media Commissioner“ teilt in einem Telefonat mit, für ein Interview mit Ayre sei eine offizielle Einladung von ihm notwendig. Außerdem wolle Antigua in den Medien ausschließlich positiv dargestellt werden.
