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Beschäftigte in Deutschland sind immer häufiger krankgeschrieben. Eine exklusive BR-Analyse von Daten der Betriebskrankenkassen (BKK) zeigt, welche Erkrankungen den Krankenstand prägen – und in welchen Regionen sich besonders viele Menschen krankmelden.
Ein Wellness-Hotel im Südharz. Der General Manager Peter Windhagen führt 173 Mitarbeiter – und hat ein Problem, vor allem jetzt im Herbst: Immer mehr kranke Mitarbeiter. Seit 2019 habe sich der Krankenstand im Hotel fast verdoppelt. Inzwischen ließen sich manche Mitarbeiter auch wegen eines leichten Schnupfens viel eher krankschreiben als früher. „Ich glaube, dem einzelnen Mitarbeiter ist gar nicht bewusst, dass er einen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, wenn er sich krankschreiben lässt“, so Windhage. Aber: „Wichtig ist, wenn der Mitarbeiter das Gefühl hat, er ist krank, soll er natürlich zum Arzt gehen.“
Den höheren Krankenstand beobachtet nicht nur er: Seit 2021 haben sich die Krankschreibungen, die bei den BKK-Krankenkassen eingegangen sind, deutlich erhöht. Das zeigt eine exklusive Auswertung der BR-Datenjournalistinnen von Daten des Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK) für Report München in Zusammenarbeit mit der Augsburger Allgemeinen. Ausgewertet wurden die Daten von fünf Millionen Versicherten, der Einfluss von Alter und Geschlecht der Beschäftigten wurde zur besseren Vergleichbarkeit herausgerechnet.
Einen sehr hohen Anteil bei den Arbeitsunfähigkeitstagen machen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems wie Rückenschmerzen oder Arthrose aus. Die Werte bleiben allerdings – trotz alternder Belegschaften – seit Jahren stabil. Auch psychische Störungen spielen eine große Rolle. Sie nehmen kontinuierlich zu und sorgen im Einzelfall für besonders lange Ausfallzeiten. Einen besonderen Sprung – und anschließend anhaltend höhere Zahlen – gab es 2022 bei den Krankheiten des Atmungssystems, hierzu zählen sowohl Corona- und Influenza-Infektionen wie auch der klassische Schnupfen.
Erkrankungen des Atmungssystems als Treiber
Der Anstieg hat mehrere Ursachen. In diesem Zeitraum wurde zum Beispiel die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) für Arztpraxen verpflichtend eingeführt. Das heißt, Krankschreibungen müssen seitdem nicht mehr extra bei der Krankenkasse abgeben werden, sondern werden automatisch übermittelt. Die Vollständigkeit der Daten nimmt also zu.
Und: „Es gibt einen sogenannten Nachholeffekt“, sagt Leif Erik Sander, Klinikdirektor der Infektiologie an der Charité. Einfach gesagt: Wenn sich Krankheiten einige Jahre nicht stark verbreitet konnten – weil Menschen zum Beispiel zu Hause blieben oder Masken trugen – gebe es in den Folgejahren höhere Infektionswellen. Außerdem seien viele Arbeitnehmer nun sensibler: „Menschen bleiben jetzt mit einem Atemwegsinfekt eher zu Hause, weil sie die Kolleginnen und Kollegen nicht anstecken wollen, wenn sie kein Homeoffice machen können oder ohnehin zu krank zum Arbeiten sind“, so Sander.
„Mit Covid-19 ist eine weitere große Atemwegserkrankung dazu gekommen, die es vorher nicht gab“, erklärt der Infektiologe. „Die macht ungefähr genauso eine hohe Krankheitslast wie die saisonale Grippe, die Influenza, und die ist jedes Jahr volkswirtschaftlich spürbar da.“ Auch eine Untersuchung des Zentralinstituts kassenärztliche Versorgung zeigt: 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2023 seien durch akute Infektionen der Atemwege sowie Corona-Infektionen zu erklären. Krankheiten des Atmungssystems machten 2024 in Deutschland rund 20 Prozent aller Krankentage aus.
Deutliche regionale Unterschiede
Regional gibt es große Unterschiede bei der Anzahl der Tage bei BKK-Versicherten, die 2024 krankgeschrieben waren. Zwischen dem Bundesland mit den meisten und den wenigsten Fehltagen im Schnitt liegen fast zehn Krankheitstage. In Baden-Württemberg waren BKK-versicherte Beschäftigte 2024 im Schnitt 18,5 Tage krankgeschrieben, im Saarland und in Sachsen-Anhalt rund 28 Tage.
Zu den Regionen mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen zählten 2024 das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt: Darunter die kreisfreie Stadt Herne, der Salzlandkreis und der Landkreis, wo auch das Hotel liegt, das Peter Windhage managt. Im Kreis Mansfeld-Südharz war im Jahr 2024 jeder BKK-Versicherte durchschnittlich rund 31 Tage krankgeschrieben.
Auf dem unteren Ende der Skala mit besonders wenigen Fehlzeiten liegt der Landkreis Starnberg in Bayern. Dort war jeder BKK-Versicherte im Schnitt nur 14,5 Tage krankgeschrieben.
Experte: Arbeitsbedingungen und Gehalt spielen eine Rolle
Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig, sagt Hendrik Berth, Psychologe am Universitätsklinikum Dresden, der sich mit dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit beschäftigt. Berth sieht eine mögliche Ursache in den Arbeitsbedingungen: Im wirtschaftlich starken Süden könnten sich Firmen eher leisten, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Außerdem unterliegen sie einem gewissen Zwang, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und müssen ihnen daher etwas anbieten.
Hinzu kommen Gehaltsunterschiede: „Auch ein regelmäßiges Sportangebot im Fitnessstudio muss erst einmal bezahlt werden“, sagt Berth im Gespräch mit dem BR. Es sei wichtig, immer auf die einzelnen Menschen zu blicken.
Manager am wenigsten krankgeschrieben
Besonders Menschen, die in Reinigungs-, Verkehrs- und Logistik- oder Fertigungsberufen arbeiten, melden sich jährlich viele Tage arbeitsunfähig – Reinigungskräfte durchschnittlich sogar mehr als einen Monat pro Jahr. Das liegt auch daran, dass die Ursache für eine Krankschreibung bei ihnen besonders häufig Muskel-Skelett-Erkrankungen sind, die zu langen Ausfällen führen. Im Vergleich deutlich seltener melden sich Menschen in der Unternehmensführung und in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen krank, also beispielsweise (Wirtschafts-)Informatiker, Biologen oder Geologen.
Krankheiten könnten sich auch gegenseitig verstärken, sagt Leif Erik Sander. Studien bestätigten: „Wenn es vielleicht ohnehin eine höhere psychische Belastung gibt und ein Atemwegsinfekt hinzukommt, dann kann man auch schneller arbeitsunfähig werden“.
Derzeit untersucht er mit seinem Team Millionen von Patientendaten. Sie zeigen, dass Infektionskrankheiten – etwa der Atemwege – unter anderem Herzprobleme auslösen können. Der Zusammenhang ist laut internationalen Studien so deutlich, dass die europäischen Kardiologengesellschaften seit Kurzem Impfungen etwa gegen Grippe oder Pneumokokken zur Vorbeugung gegen Herzkrankheiten offiziell empfehlen.
